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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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Höhenunterschied verursachte Henning ein leichtes Schwindelgefühl. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, wie sich tief unter ihm ein paar Möwen mit hungrigem Geschrei in die gischtschäumende Flut stürzten, während am Horizont ein Schiff vorüberglitt. Je näher er dem Abgrund kam, desto wilder zerrte Rex an seiner Leine. Henning begriff, dass er ihn warnen wollte. Im Gegensatz zum Menschen hatten Hunde ein untrügliches Gespür für gefährliche Situationen.
    Er ignorierte Rex’ lautstarken Protest und band ihn am Stamm einer Buche an, die zu einem kleinen Hain gehörte. Anschließend griff er sich sein um den Hals hängendes Fernglas. Linkerhand gaben die von Bäumen bewachsenen Klippen ein Stück Kreidefelsen frei, das steil zum Strand hin abfiel. Der von Wurzeln durchzogene Boden neigte sich leicht zum Meer hin. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, wie der Kinderwagen auf dem überfrorenen Gefälle ins Rollen gekommen war. Henning fragte sich, wie Elena nur so leichtsinnig gewesen sein konnte. Auch wenn ihm die Vorstellung missfiel, musste er davon ausgehen, dass sie ihre Sorgfaltspflicht grob vernachlässigt hatte. Alles andere hätte die Anwesenheit eines Dritten vorausgesetzt und die Sache in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Wo war übrigens Leas Vater heute?
    Nachdem er sich einen Vermerk darüber gemacht und eine Skizze von der Unglücksstelle angefertigt hatte, band er Rex los und trat den Rückweg an. Auch wenn er lange genug Polizist gewesen war, um zu wissen, wie mühsam sich Recherchearbeit gestalten konnte, bedrückte es ihn, dass seine bisherigen Erkenntnisse keinerlei Anhaltspunkte dafür boten, Lea könnte den Sturz überlebt haben.
    Zu Hause ließ er sich ein heißes Bad einlaufen, um die Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben. Danach trieb ihn sein knurrender Magen in die Küche, wo er sich zwei Wurstbrote schmierte und einen Ingwertee aufbrühte.
    Als sein Hunger gestillt war, griff er nach dem Telefonhörer, um Marlies anzurufen. Leider meldete sich lediglich eine blecherne Konservenstimme, um ihm mitzuteilen, dass der von ihm gewünschte Gesprächspartner im Moment nicht erreichbar sei. Er hinterließ eine kurze Nachricht und fuhr seinen Computer hoch, klickte sich zu Google durch und gab den Namen des Fernsehsenders in die Suchmaske ein. Ein paar Mausklicks später erschien die Nummer des Senderbeauftragten auf dem Bildschirm.
    Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wählte er die angegebene Nummer und ließ sich mit ihm verbinden. Sein Gesprächspartner konnte ihm leider nicht weiterhelfen. Ihm waren die Hände gebunden, da es sich bei der Sendung um eine Lizenzproduktion handelte. Bevor Henning seinen Frust darüber abreagieren konnte, rief Marlies an.
    Er informierte sie über seinen Misserfolg. Kampfeslustig meinte sie: »Dann muss Peer eben seine Kontakte für uns spielen lassen. Ich werd gleich mal mit ihm reden. Soll er diesen Paragrafenreitern doch ruhig mal ein bisschen die Hölle heiß machen.«
    Erfreut nahm Henning den Vorschlag zur Kenntnis. Auf Marlies war eben Verlass! Ihm fiel erneut Elenas Mann ein: »Was ist eigentlich mit Herrn Dierks?«
    »Ja, weißt du das denn nicht?«
    »Was soll ich wissen?«
    »Na, dass er tot ist«, teilte sie ihm nach kurzem Zögern mit.
    »Tot?«, wiederholte Henning in der Hoffnung, sich verhört zu haben.
    »Ich dachte, Elena hätte es dir gesagt.«
    »Dann würde ich wohl kaum nach ihm fragen.« Henning hörte sich an, als hätte sie ihm einen Zentner Beton aufgeladen. Mit einem lang gezogenen Seufzer machte er seiner Betroffenheit Luft. Dann erkundigte er sich, woran Danko Dierks starb.
    »Er ist nicht damit klargekommen, dass …« Weiter kam sie nicht.
    »Heißt das, er hat sich das Leben genommen?«
    Statt seine Frage zu beantworten, ließ Marlies ihn wissen, dass es für Danko schwer gewesen sei, das alles zu verkraften. »Die depressive Frau, das tote Kind, er hat die Flucht ergriffen. Hat einen Last-Minute-Flug nach Thailand gebucht.«
    »Hört sich nach einer klassischen Kurzschlusshandlung an.«
    »Ob es das tatsächlich war, werden wir nie erfahren.«
    »Kannst du mir mal verraten, was das heißen soll?«
    »Denk doch mal nach! Weihnachten 2004!«
    »Willst du damit andeuten, er sei dem Tsunami zum Opfer gefallen?« In des Kommissars Stimme schwang Ungläubigkeit.
    »Leider ja«, bestätigte Marlies. »Als der Tsunami kam, war Danko im Lagoon Beach Resort. In einer dieser Bungalowsiedlungen, die
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