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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Autoren: Jochen Senf
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    Vor wenigen Tagen war ich noch wohlauf. Ich trank morgens meinen Milchkaffee am Stuttgarter Platz in Berlin in meinem Stammlokal ›Dollinger‹ und las die Zeitung. Im ›Dollinger‹ gab es eine vorzügliche Küche bei moderaten Preisen. Den ›Patron‹ Jean, einen Franzosen und echten Piraten aus der Bretagne, hatte es an die Spree verschlagen. Ihm ging kein Wein aus dem Weg. Jean war Fischexperte. Sein Loup de Mer auf Wurzelgemüse mit einem Safrandip und Kroketten war köstlich. Eine Freude, wenn die frischen Austern aus der Bretagne morgens in viereckigen Körben, aus denen Wasser tropfte, entladen wurden. Gezackte Algenspitzen drängelten sich bräunlich-grün und fleischig glänzend, noch nass vom Meer, zwischen den Korbritzen. Der Stutti roch nach salzigen Wellen, als hauchte eine Seeprise vom Meer her über den Platz. Das ›Dollinger‹, ein Geheimtipp der Berliner Gastronomie, der seinesgleichen suchte.
    Jetzt war alles anders. Ich wusste ohne Scherz nicht, ob ich die nächsten Stunden oder Tage überhaupt überleben würde. Es ging um Kopf und Kragen. Ich lebte mit der Verzweiflung eines Menschen, der eine Flaschenpost in die Wogen des Atlantiks warf, in Gischt sprühende Brecher, die auf mich zurasten, um mich zu verschlingen, mit der schmalen Aussicht, dass irgendein Mensch in dieser Wasserwüste, dass ein Leser den Brief, in dem ich um mein Leben schrieb, finden, öffnen, lesen und verstehen würde. Sie werden längst begriffen haben, lieber Leser dieser Zeilen, dass es das alles gar nicht gab, nur in meinen Gedanken. Sie waren die aussichtslose Hoffnung des Verfassers einer Flaschenpost. Aber ich wendete mich in meiner Fantasie und Verzweiflung lieber an eine nicht existierende Person als an überhaupt niemanden. An welches Gestade wird die gläserne Post treiben? In die richtigen Hände? Aber was waren die richtigen Hände? Mein Leben war allen Händen entglitten.
    Vor vier Tagen war mein Weltbild noch heil. Jean servierte mir Austern mit Sauce Vinaigrette. Ich ruhte in meinem Weltbild wie in sämig geschlagenem Kartoffelpüree, frisch serviert mit gebratener Boudin. In einem Schälchen wurden in Speck gebratene Zwiebeln serviert, die ich über das Kartoffelpüree goss.
    Das Bild war restlos zerbrochen. Als hätte man einen Spiegel fallen lassen, in dem ich mich gerade eben noch heil, Austern schlürfend, erblickte, das Glas mit kaltem Muscadet hebend. Nun, tausendfach zersprungen, wurde ich aus vielen Spiegelsplittern widergespiegelt bis zum Schwindligwerden. Ich fühlte mich nach all dem, was mir in den letzten Tagen widerfahren war, als hätte sich ein fremder Stachel in mich gebohrt, der geisterartig fremd in mir hauste, mir die Sinne zerfetzte, als hätte eine böse Mutter ihren kalten Blick in mich gesenkt bis zur Vereisung. Wie sonst konnte man das ertragen, was ich in letzter Zeit zu ertragen hatte? Aber wie kam ich auf meine Mutter?
    Ich wendete mich an einen Leser meines in Gedanken geschriebenen Berichtes, um zu überleben. Was mich durchaus erheiterte. Es gab diesen Leser ja gar nicht!
    »Hallo, Sie da«, sagte ich in der S-Bahn in Berlin zu meinem Gegenüber, »könnten Sie mir einen Gefallen tun? Hauen Sie der Rothaarigen neben Ihnen eins auf die Nuss! Dem Luder. Trauen Sie ihr ja nicht über den Weg!«
    »Da ist niemand«, sagte mein Gegenüber. »Eben«, sagte ich. »Tun Sies trotzdem.«
    Diese Rothaarige existierte. Mit ihr fing alles an. Im ›Dollinger‹. Noch ein Momentchen Geduld. Erst muss ich die Präliminarien klären. Erzähle mir keiner etwas von Zufällen! Meine Mutter! Eine Schlingpflanze, ein Geier mit scharfen Krallen, die ihren dolchartigen Schnabel ins Söhnchen hackte.
    Ich hatte schon immer das Gefühl, in alle vier Winde zerstreut zu sein. Ähnlich meiner Großmutter, die auch die zersprungenste Tasse wieder zusammenklebte. Mit unendlicher Geduld klaubte sie jeden Tassen- oder Tellersplitter und jede Scherbe vom Boden auf, auf dem die Tasse zerbrochen war, als handele es sich um eine Kostbarkeit aus fernen Zeiten. Mit spitzen Fingern führte sie die Uhutube entlang den Bruchrändern, feine Uhufäden zogen sich von Splitter zu Splitter, überzogen schließlich spinnennetzartig die Finger meiner Großmutter samt den zusammenzufügenden Bruchstücken, bis sich schließlich aus diesem Knäuel von Fäden, Fingern und Splittern eine neue Tasse herausbildete wie aus einem Kokon. Ganz behutsam setzte sie die neu zusammengefügte Tasse auf den Tisch, zupfte noch an
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