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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Autoren: Jochen Senf
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diesem oder jenem Fädchen, bepustete alles, »damit es trocknet«, sagte sie. Wie vermisste ich meine Großmutter! In diesem bunkerartigen Bauch eines Walfischs!

    Den Menschen, von denen ich erzählen werde, erging es weitaus schlimmer als mir. Ich war nur Zuschauer. Das bloße Zuschauen genügte, um mich in die Situation auf Leben und Tod zu bringen, in der ich war. Nur war ich mir nicht sicher, ob die Gründe meiner jetzigen bedrohlichen Situation nicht tiefer und weiter zurücklagen und ob ich solche Situationen, wie unter einem Zwang stehend, nicht immer wieder heraufbeschwörte. Ich könnte sie ja vermeiden.
    Man sagte, Menschen suchen sich Menschen nach dem Muster aus, nach dem sie auch gestrickt sind. Wer strickt, häkelt nicht.
    Das sagte auch meine Großmutter beim Kleben ihrer Tassen: »Gleich und gleich gesellt sich gerne!«
    Das meinte sie abwertend. Ihren Mann meinte sie, meinen Großvater, »der ein Filou war«, sagte mein Großonkel, der Bruder meiner Großmutter, ein Pferdeschmied, der Brauereigäule im fernen Saarland behufte. Für die Geigenkünste meines Großvaters hatte er wenig übrig. Dieser Großvater, ein Geiger auf der Durchreise im Saarland, überraschte meine Großmutter im Heu, das sie ungeschwängert nicht verließ. Meine Mutter war das Ergebnis dieser Kurzweil. Der Vater schnell über alle Berge.
    Da war kein Himmel voller Geigen hinterher, da war harte Zucht. Das Leben meiner Mutter ein einziger, verdächtiger Heuhaufen voller Unzucht, derer sie verdächtigt wurde ohne jeden Anlass. Das Schicksal ihrer Mutter, meiner Großmutter, sollte ihr erspart bleiben. Der Heuhaufen wurde immer wieder und wieder gewendet. Kein Fädchen Pferdehaar vom Fidelbogen oder vergleichbar Verwerfliches sollte darin sein. Ein mütterlicher Scherbenhaufen von Anfang an in meinem Leben, den auch meine Großmutter nicht mehr kleben konnte. Vielleicht hoffte meine Großmutter, mit dem Kleben von zerbrochenen Tassen, immer wieder und wieder, sich ein neues, vergebliches Glück zu erkleben. Ein bisschen Lebensfreude zumindest, das ihr die Bitterkeit, die Erinnerung an den Filou vertrieb, der sich für immer in ihr Herz eingeschlichen hatte. Adieu, adieu. Oh, Schmerz!
    Sie betrieb mit ihrer Tochter ein Pelzgeschäft. Beide waren Kürschnerinnen. In Saarbrücken im Saarland, wo die Hochöfen qualmten, in der Katholisch-Kirch-Straße, in einem uralten Handwerkerhaus mit steilem Giebel und einem roten Ziegeldach, das, einer brütenden Glucke gleich, das Haus bewachte. Gegenüber lag die schönste barocke Basilika, die von St. Johann, die ich je gesehen habe. Täglich strömten Orgelklänge durch die Altstadt und die Gesänge des Gemeindechores belebten das Ohr. Kein Bettler an der Pforte der Basilika kam zu kurz. Die alten Pflastersteine glänzten satt, bei Regen oder Sonne.
    Gleich und gleich gesellte und gesellt sich gern. Wie die Mutter, so die Tochter. Da half kein Die-Stecknadel- im-Heuhaufen-Suchen! Die Nadel machte, was sie wollte! Zwischen Himmel und Erde geschah es. Auf dem Maifest unten an der Saar auf den Wiesen. Auf einer Schiffschaukel. »Wollen wir mal gemeinsam?«, fragte der Bremser des Schiffschaukelunternehmens, ein sehniger, schwarzhaariger Mann mit feurig blauen Augen. Da war alles klar. Meine hellblonde Mama mit den Sommersprossen auf der Nase kletterte mit dem Bremser in die Schiffschaukel. Ein Wippen und Heben, ein immer mächtiger werdendes Hin und Her, ein Steigen und Schwellen hub an. Zwischen Himmel und Erde, bei einem Überschlag, die Beine stachen gemeinsam ins blaueste Blau, die Schenkel pressten sich, musste es passiert sein, die Blicke in die Augen, die sich verzehrten. Da war kein Bremsen mehr. Ich entstand. Im Schatten einer frisch gebundenen Strohgarbe an den Ufern der Saar auf einem frisch gemähten Weizenfeld. Wo die Stoppeln in die Rücken stachen.
    »Hat das gestochen«, kicherte meine Mutter immer nach dem dritten Cognac, den sie über alles liebte. Der Bremser war am nächsten Tag verschwunden. Was solls! Meine Mutter war nie ein Kind der Traurigkeit.
    Ich könnte meine Kindheit nicht beschwören. Ich bastelte sie mir zusammen aus Bruchstücken, Aufgeschnapptem, aus Zwängen, Ängsten und Erfundenem. Ich liebte das Leben als Puzzle. Ich war süchtig danach. Je undurchsichtiger, vager, ungenauer, desto besser. Eine Fülle von Verdachtsmomenten, Verdächtigungen, Denunziationen, Unwahrscheinlichkeiten, unbewiesenen Behauptungen, Ausrastungen, Aufwerfungen, Intrigen,
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