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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Autoren: Jochen Senf
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Schürzen mit ihren Tabletts, die über die Köpfe hinwegsegelten. Ich hatte die Apotheke verlassen und öffnete neugierig das Döschen. Rosafarbene Kugeln schimmerten mir entgegen. Mottenkugeln. Ich wurde schamrot. Bestimmt hatte jeder die Mottenkugeln gesehen. Der St. Johanner Markt hielt den Atem an und die Menschen starrten auf mich. Ich ging mit geradem Rücken ganz beherrscht nach Hause, das Döschen in meine rechte Faust gesperrt. Ich ging in mein Zimmer, holte meinen Koffer vom Schrank, packte ihn und verließ Saarbrücken. Mit ein paar Mark in der Tasche trampte ich nach Berlin. Das war vor genau 30 Jahren. Ich war damals achtzehn, kurz vor dem Abitur, meine Mutter war 35. Ich hatte nichts. Nur mich. Ich habe meine Mutter seitdem nie wieder gesehen. Ich habe nichts mehr von ihr gehört. Ich war nie mehr zu Hause. Als wäre es das nie für mich gewesen. Als wären meine Kindheit und Jugend eine undurchschaubare, nebulöse Angelegenheit. Ein schwarzes Loch, in das ich niemals fallen wollte. Das Döschen mit den Mottenkugeln hatte ich in den Mülleimer geworfen. Man kann seiner Geschichte nicht entkommen. Das merkte ich erst viel später. Jetzt. In diesem Augenblick.

2
    Ich sah sie schon von Weitem. Erst als schwankendes Pünktchen, das sich näherte, aus dem Pünktchen wurde eine Frau mit einem Koffer, und bald leuchtete ihr brandrotes Haar in der Sonne. Sie trug ein hellbeiges Kostüm mit großen Perlmuttknöpfen, die in der Morgensonne silbrig blitzten. Sie bewegte sich schnurgerade auf mich zu. Der Koffer zog leicht ihre rechte Schulter herunter. Mit der linken Hand trug sie einen Aktenkoffer. Sie stellte den sichtbar schweren Koffer an der Kreuzung ab, verschnaufte, schaute in den viel zu teuren Italienerladen direkt an der Ecke, wo 100 Gramm entkernte schwarze Oliven acht Euro kosten, nahm den Koffer wieder auf und kam, immer noch gut 50 Meter von mir entfernt, mühsam auf ihren hochhackigen Schuhen stöckelnd, direkt auf mich zu, als wären wir verabredet. Es war genau in dem Moment, als ich, vor dem leeren ›Dollinger‹ sitzend – es war gerade neun Uhr morgens und die Bedienung namens Doris noch ziemlich verpennt –, als ich mir, mit dem ›Tagesspiegel‹ in der Hand, Sorgen um mich und meine Zukunft machte. »Doris, wo bleibt denn der Milchkaffee?«, rief ich.
    Am Abend zuvor hatte mir eine am Stuttgarter Platz bekannte Psychotherapeutin, mit ledriger Haut bespannt wie eine Buschtrommel, im ›Lentz‹, einem 68er-Lokal, zum wiederholten Mal getrommelt, dass ich dringend einer Therapie bedürfe. »Ich brauche keine Therapie«, erwiderte ich. »Ich weiß«, sagte sie. Ihr Trommelschlag wurde jetzt ganz sanft und fast Moll, wie sie mit ihren Fingerspitzen auf die Tischplatte trommelte, was mich ziemlich nervös machte. Dieses Gehacke! Ich habe eine ausgeprägte Geräuschphobie entwickelt in Berlin, besonders gegen Pfeifen und Schmatzen, und sie schmatzt beim Sprechen. Nur leicht, aber sie schmatzt. Sie schaute mir mit ihren feuchtkalten Augen in die Augen: »Du brauchst eine Frau. Du kriegst aber keine bei deinen Blessuren. An ihnen musst du arbeiten.« Ihr Blick mit den aufgeklebten Wimpern, an deren Rand die Tusche bröckelte, sagte, dass sie es sein werde, die Tag und Nacht rund um die Uhr erst mit mir arbeiten und dann meine Frau werden würde. Ihr Mund spitzte sich und wurde ganz schrumpelig. Sie war Ende 30. Ich war froh, dass ich keine Titten habe, als ich ihr in den Ausschnitt blickte. Ich hatte ihr vor Jahren völlig betrunken von mir erzählt, nachdem sie sich als Therapeutin vorgestellt hatte. Ich musste ziemlich besoffen gewesen sein in dieser Nacht. Seitdem verfolgte sie mich. »Ich habe selten einen Mann erlebt, der sich so in eine Frau einfühlen kann wie du«, hatte sie an jenem Abend gesagt. »Man merkt es dir an, wie tief Frauen in dich gedrungen sind«, sagte sie. »Es wachsen Söhne ohne Väter heran. Muttersöhne sind die sensibelsten. Ein ganz neuer Typ Mann entsteht. Ein verweiblichter ohne Machogetue, aber ein Mann, dessen Haut sich über meine spannt wie ein schützendes Dach. Du brauchst Hilfe!« Ich meide jetzt das ›Lentz‹, obwohl die Buletten am Platz die besten sind.
    Ich machte mir Sorgen, weil ich pleite war und tatsächlich schon lange keine Affäre mehr hatte. Vielleicht hing ja das eine mit dem anderen zusammen. Seit 30 Jahren lebte ich in Berlin nach dem Motto: Eine Minute vorher hatte ich es nicht gewusst, der Zufall kam um die Ecke, sagte Hallo und war da.
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