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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Autoren: Jochen Senf
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sähe? Meine Mutter entkleidete sich in meiner Anwesenheit im Schlafzimmer, an das das Bad angrenzte. Die Seide raschelte. Stück für Stück glitt sie von ihrem schlanken Körper und fiel zu Boden: der Rock, die Bluse, der Unterrock, der Büstenhalter. Spitze, feste Brüste, rosafarbene Brustwarzenhöfe. Sie löste den Strumpfträger. In kleinen Windungen der Hüfte, unterstützt von abgespreizten Fingern, wanderte das Höschen über ihre weißen, vollen Schenkel, entblößte das Schamhaar, diesen sanft geschwungenen Hügel, rutschte über die Knie, fiel auf ihre Füße, die sie anmutig, einen Fuß nach dem anderen, aus dem Höschen hob. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte sie das Höschen, das mit dem Saum gerade eben noch an ihrer Zehe hing, fort. Dabei sah sie mich an. Ich wollte wegrennen und traute mich nicht. »Hebst du das Höschen für mich auf?«, fragte sie wieder und lächelte. Ich hob es auf und musste es über einen Stuhl legen. »Wenn ich mal alt bin und alleine, musst du mich beschützen«, sagte sie. »Du darfst mich nie verlassen.« Sie starrte einen Moment vor sich hin. »Alleine bin ich sowieso. Du kannst jetzt das Wasser einlassen.« Ich ging ins Bad und ließ das Wasser ein. Meine Mutter folgte. Vor einem Spiegel entfernte sie mit einer Pinzette von ihren Brüsten, ihrem Bauch, ihren Schenkeln Haare und kleine Unreinheiten. Ich stand am Rand der Badewanne und beobachtete sie. »Mach das Wasser nicht zu heiß«, sagte sie, »und vergiss das Badesalz nicht.« Ich streute Badesalz ins Wasser. Diese nackte Frau mit diesem straffen Po mit diesen Grübchen über den Backen knapp unter der schmalen Taille, die in einen geraden, muskulösen Rücken aufstieg, der in einen langen Hals mündete. Er war unter dem dichten, blonden, langen Haar nur zu ahnen, das, von keiner Haarnadel gehalten, den Rücken bedeckte. Es war meine Mutter, die an mir vorbeischritt zur Badewanne, mit diesem Lächeln, ein Lächeln mit Augen, mit dem Blick, der sagte: »Ich will, dass alle mich wollen.« Ein ganz zart gerötetes Lächeln, wie die im Garten gerade erblühten Pfingstrosen. Volle, rote Lippen waren es, die immer leuchteten unter dem hellblonden Haar meiner Mutter, die an der Badewanne stehen blieb, mit der Zehenspitze die Temperatur des Wassers prüfte, dieses dunkle Nest zwischen ihren Beinen, das sichtbar wurde, wenn sie das Bein hob, und dann das andere, und wenn sie dann langsam ins Wasser glitt. Für einen Moment schien sie vollständig abwesend. Sie ließ, auf dem Rücken liegend, im Wasser fast schwebend, die Wärme in sich eindringen. »Seifst du mir den Rücken ein?«, bat sie dann. Ich seifte ihren Rücken ein. Dann sagte sie – immer wieder sagte sie, Tag für Tag – zwischen den Schaumkronen ihres Badesalzes den Satz: »Kommst du?« Ich wusste, dass diese Aufforderung, zu ihr ins Bad zu steigen, folgen würde. Mich entkleiden meinerseits. Dann ins Wasser. Dennoch die bange Hoffnung, dass dieser Satz ausbliebe, und stattdessen beruhigt das Bad verlassen, beruhigt die Treppe hinuntergehen, die Straße betreten, in die Basilika gehen, der Orgel lauschen, die man durch das leicht geöffnete Badezimmerfenster hörte. »Kommst du?« Flüchten können, ganz weit, entfliegen, über die Grenzen der Stadt hinweg, über den Horizont hinaus, unauffindbar für diesen Satz »Kommst du?« Stattdessen sich entkleiden, ins Wasser zu ihr steigen, mit den Händen den Schaum fächern. Sie blies in ihn, Schaumfetzen stoben zu mir. Das Wasser schwappte leicht. Ganz leises Abtropfen der Wassertropfen von den Fingerspitzen ins Wasser, das Winken ihrer Hand mit einer winzigen Ungeduld. Sie benetzte mein Gesicht mit Wasserspritzern. Ich erstarrte, ich dachte mich ganz weit fort. Ich spürte die Hand, die sich ins Wasser zwischen meine Beine senkte, wo der erste Flaum sprießte. Ein sanftes, peinigendes Kraulen. Eine Steifheit, die nicht sein durfte. Mit der ich nichts zu tun hatte. Die Badezeit zog sich unendlich. Im heißen Badewasser dachte ich an tiefgefrorenes Fischfilet. Danach ging meine Mutter in die Basilika zur Messe, die der Priester hielt. Ich lag noch im Badewasser, bis diese Spannung nachgelassen hatte. Wie konnte ich all dem für immer entkommen? Mein Herz pochte.
    Eines Tages reichte mir die Apothekerin am Markt ein Döschen. »Für Sie«, sagte sie. »Es kostet nichts.« Es war mittags. Die Sonne schien. Die Bistros waren voll, Stimmen überall, Rufe der Gäste, Begrüßungen und Hallo. Kellner in weißen
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