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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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geprüft, ob und inwieweit diese Aufgabe von Angehörigen übernommen werden kann. Weil es in Frau Dierks Fall jedoch niemanden gab, der dafür infrage gekommen wäre, und auch keine von ihr für eine solche Situation festgelegte Verfügung existierte, stellte man mich ihr als Betreuer zur Seite. Damit ein solcher Schritt auch rechtsverbindlichen Charakter trägt«, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, »ist ein ärztliches Gutachten erforderlich. Es muss der zu betreuenden Person aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung bescheinigen, zur Regelung ihrer Belange auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Dem Vorliegen eines solchen Attestes schließt sich eine richterliche Anhörung an, in der die betroffene Person ihre schriftliche Zustimmung zu der vom Vormundschaftsgericht vorgeschlagenen Vereinbarung geben muss.«
    »Und wie lange gilt ein solcher Betreuungsvertrag?«
    »So lange, bis der Betreffende seine Belange wieder in eigenständiger Regie übernehmen kann.«
    »Könnten Sie das vielleicht etwas konkretisieren?«, erkundigte sich Henning in Hinblick auf die bislang von Edgar Bader erbrachten Hilfeleistungen.
    »Ich hoffe, Sie haben gute Gründe mich danach zu fragen«, gab dieser ihm zwischen zwei Schlucken Kaffee zu bedenken, bevor er ihm mit sichtlichem Unbehagen Einblick in die Nachlassangelegenheiten gewährte. Sein Wissen bezog sich in erster Linie auf den Verkauf der Immobilie der Dierks, die mit erheblichen Schulden belastetet gewesen war. »Obwohl sich ein Interessent fand, ließ der Kaufpreis den zwischenzeitlich angesammelten Schuldenberg nur geringfügig schrumpfen.« Um Henning die finanzielle Lage von Elena Dierks zu verdeutlichen, vertraute ihm Edgar Bader an, dass er für ihre Unterbringung in der Psychiatrie einen Zuschuss über das Sozialamt beantragen musste. »Im Gegenzug verlangte man von mir, alles noch verwertbare Vermögen pfänden zu lassen, um damit wenigstens einen Teil der Kosten zu decken.« Er seufzte gequält.
    »Demnach ist Frau Dierks also völlig mittellos?«, vergewisserte sich Henning.
    »Arm wie eine Kirchenmaus«, bestätigte Bader. Es sei ein Trauerspiel gewesen, mit ansehen zu müssen, wie sich ein ganzes Leben plötzlich auf den Inhalt eines Pappkartons reduziert.
    Henning nickte. Er spürte einen dicken Kloß im Hals. Was hätte er auch sagen sollen? Statt ihm weiterzuhelfen, hatte das Gespräch mit Edgar Bader einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

6
     
     
    Tags darauf rief Marlies an, um Henning mitzuteilen, dass der von Peer angeforderte Mitschnitt eingetroffen war. »Ich habe bereits mit der Klinikleitung gesprochen. Sie haben nichts dagegen, wenn wir die DVD in Elenas Gegenwart abspielen.«
     
    In der Klinik wurden sie bereits von Elena erwartet. Ihr Lächeln wirkte verkrampft und verriet die Anspannung, unter der sie stand.
    Als Marlies die DVD in den Rekorder eingelegte, begann sich atemlose Spannung im Zimmer breitzumachen. Den Blick wie paralysiert auf den Fernsehapparat gerichtet, schwebte über ihren Köpfen die unausgesprochene Frage, was sie erwarten würde.
    Henning drückte auf Play. Ein als Weihnachtsmann verkleideter Moderator erschien auf dem Bildschirm, um die Zuschauer mit amerikanischen Weihnachtsbräuchen bekannt zu machen und sie auf das bevorstehende Fest einzustimmen. Im darauffolgenden Teil wurden von Kinderchören vorgetragene Weihnachtslieder von Aufnahmen des an der Südspitze Manhattans gelegenen Battery Parks untermalt. Danach schwenkte die Kamera über die am Ufer des Hudson Rivers gelegene Esplanade und umkreiste die im Bryant Park befindliche Eisbahn. Die sich anschließenden Aufnahmen zeigten die Skyline von Manhattan.
    Als die Kamera nach etwa der Hälfte der Sendung eine am Straßenrand stehende Menschenmenge einfing, schnellte Elenas Kopf plötzlich nach vorn und sie begann aufgeregt mit den Armen herumzurudern. Kurz darauf stieß sie einen spitzen Schrei aus. »Da! Dort vorn – das war Lea. Können Sie bitte zurückspulen?«
    Sekunden später starrten sie auf ein körniges Standbild. Es zeigte ein kleines Mädchen, das mit glänzenden Augen und rotgefrorener Stupsnase in die Kamera sah. Obwohl die Aufnahme leicht verzerrt und unscharf war, konnte man den Leberfleck auf dem rechten Wangenknochen deutlich erkennen. Die Ähnlichkeit mit dem von Elena zum Vergleich herangezogenen Foto war trotz der mangelhaften Qualität unübersehbar.
    »Und, glaubt ihr mir nun?«, stieß sie mit vor Erregung vibrierender Stimme
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