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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen
Autoren: Federica de Cesco
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1. KAPITEL
    Ich träumte oft von meiner Mutter. Sie hatte mich nie ganz verlassen, obwohl sie vor zwei Jahren gestorben war. Das Traumbild wechselte, flimmernd wie ein unscharfer Filmstreifen, und ergab auch nicht immer einen Sinn. Beim Erwachen verblasste es, aber die Erinnerung blieb. Und wenn ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich stets ihr Gesicht: dieselben braunen Augen, dasselbe dicke, widerspenstige Haar, denselben großen Mund. Noch heute wurde ich im Reservat von fremden Leuten angesprochen: »Ach, bist du Melanies Tochter?« Ein- oder zweimal war ich sogar davongerannt, bloß um nicht sagen zu müssen, dass sie tot war. Das hatte sich inzwischen gebessert. Immerhin war ich fünfzehn geworden. Aber der Schmerz blieb und jedes Mal, wenn ich an unserem Lebensmittelladen neben der Tankstelle vorbeikam, drehte ich den Kopf zur anderen Seite. Elliot Reed, mein Vater, war schon morgens um neun betrunken und der Besitzer hatte nicht gewollt, dass er den Laden weiterführte. Zu Anfang hatte er noch Kuchen gebacken wie früher meine Mutter, aber sein Kuchen war nicht gut. Sogar ich hätte es besser gemacht, aber ich war in der Schule.
    In dem Laden gab es alle Dinge, die die Leute im Dorf so brauchten: Milch, Cornflakes, Dosenfleisch, Waschmittel, Shampoo. Auch Babywindeln, Taschenlampen und Batterien, Gartenscheren und Schreibwaren. Dazu kam Melanies frischer Obstkuchen, den sie täglich backte. Mittags war schon alles verkauft. Deswegen ging der Laden so gut, obwohl viele Leute im Supermarkt kauften. Dann wurde sie krank, Migräneanfälle und Schmerzen in den Knochen traten immer häufiger auf. Melanie musste für mehrere Wochen ins Krankenhaus und bekam Bestrahlungen. Sie verlor ihr dichtes Haar und sah eine Zeit lang aus, als ob sie meine Großmutter wäre, dabei war sie nicht einmal vierzig. Inzwischen führte mein Vater den Laden. Die Männer kamen gerne, weil er mit ihnen scherzte. Aber die Frauen schickten oft ihre Kinder mit einer Liste von Einkäufen und ärgerten sich, wenn mein Vater ihnen das falsche Waschpulver mitgab. So verloren wir Kunden. Mein Vater bestellte nicht pünktlich neue Ware und zahlte alle Rechnungen mit Verspätung. Er arbeitete lieber im Garten, werkte und zimmerte, führte kleine Aufträge aus. Früher war er nie ein Typ gewesen, der schon frühmorgens in der Kneipe saß. Aber das änderte sich nach dem Tod meiner Mutter. Mein Vater war nie streitsüchtig und machte auch keine blöden Sprüche. Er hatte ein einfältiges Lächeln und brütete oft vor sich hin. Zum Schluss verlor der Besitzer die Geduld: Seine Tochter, die jung verheiratet war, übernahm mit ihrem Mann den Laden. Der Arzt stellte fest, dass mein Vater zuckerkrank und arbeitsunfähig war; also bekam er etwas Geld und von diesem Geld mussten wir leben.
    Zum Glück gehörte uns das Haus. Mein Großvater hatte es mit Freunden gebaut, es war warm im Winter und kühl im Sommer. Meine Mutter hatte schöne Gardinen genäht und mein Vater die Möbel selbst gezimmert. Aber jetzt saß er nur noch vor dem Fernseher und der Garten verkam. Meine Mutter hatte viel gelesen, früher war unser Bücherregal voll bepackt. Heute standen die Bretter leer. Mein Vater brauchte Geld für die Kneipe und hatte die Bücher verkauft. Ich hatte vergeblich versucht ihn davon abzubringen.
    »Nein, Elliot, nein! Nicht Melanies Bücher!«
    »Die nehmen bloß Platz weg. Und wer liest sie denn?
    Du vielleicht?«
    »Doch, in den Ferien.«
    »Quatsch! Du sitzt doch nur vor der Glotze.«
    »Das ist überhaupt nicht wahr!«
    Er hörte nicht wirklich zu, er dachte nur an die Schulden, die er in der Kneipe machte. Nach und nach hatte er alle Bücher verkauft. Einige waren alt und sehr schön, aber viel Geld bekam er nicht dafür. Einmal überraschte ich ihn, als er nüchtern war und finster die leere Bücherwand anstarrte.
    »Weißt du, was? Ich hätte die Bücher behalten sollen. Sie fehlen mir irgendwie. Dir nicht auch?«
    Dumme Frage, dachte ich wütend. Elliot hatte Tränen in den Augen, aber ich hatte in diesem Moment kein Mitleid mit ihm. Das war in der Zeit, als er unter starken Medikamenten stand und nur noch im Pyjama herumlief. Vernünftig mit ihm reden konnte ich nicht mehr. Alles, was er sagte, klang logisch und war gleichzeitig der größte Unsinn. Immerhin kümmerte er sich um den Haushalt und machte mir zu essen. Wenn ich von der Schule kam, stand auf dem schmutzigen Wachstuch in der Küche eine Schüssel mit Kartoffeln oder Steckrübenbrei,
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