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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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atemberaubender. Um mich ungestört meiner Arbeit widmen zu können, hatte ich den Kinderwagen ein paar Schritte entfernt abgestellt.
    Dass ausgerechnet diese Stelle von einer dünnen Eisschicht überzogen war und zum Meer hin abfiel, wurde mir erst bewusst, als der Kinderwagen bereits dem Abgrund entgegenrollte. Mein Leben lang werde ich dieses Bild nie vergessen. Es hat sich wie ein rotglühendes Eisen in mein Gedächtnis eingebrannt. Im Bruchteil einer Sekunde war ich mir wie in einem Albtraum vorgekommen: Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab und der mich fast den Verstand gekostet hätte. Dabei hatte ich doch nur rasch ein paar Bilder von den mit schäumender Gischt überzogenen Felsen schießen wollen. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie der Kinderwagen mit meinem Baby, mit meiner Lea, wie durch Geisterhand bewegt dem Abhang entgegenrollte. Sofort stürmte ich los – doch es gelang es mir nicht, ihn aufzuhalten. Sekunden, bevor sich meine Finger um den Griff des Kinderwagens schließen konnten, hatte ihn der Abgrund verschlungen. Eine auf den Wellenbergen treibende Plane war das letzte, was ich von ihm zu sehen bekam. Dann bin ich wohl besinnungslos zu Boden gesunken – in diesem Zustand hat mich zumindest ein Spaziergänger gefunden.
    Wie mir später erzählt wurde, setzte der Mann einen Notruf per Handy ab und kurze Zeit später trafen Rettungsarzt, Polizei und Feuerwehr ein. Polizeitaucher bargen die Überreste des Kinderwagens aus dem Meer; da brach ich ein zweites Mal zusammen und wurde der Vorsicht halber in die Psychiatrie eingewiesen. Mir wurden Beruhigungsmittel verabreicht, die mich in einen gnädigen Dämmerzustand versetzten und mich jegliches Zeitgefühl vergessen ließen. Unter wattigen Wolken begraben schien das tragische Unglück seinen Schrecken verloren zu haben. Zumindest für den Augenblick. Doch irgendwann durchdrang die Erkenntnis, was geschehen war, den medikamentös errichteten Schutzwall. Mein Kind, ich bin schuld, dass mein Kind …«
    Ihren Worten folgte Schweigen, was Henning erahnen ließ, dass weder die Ärzte noch ihr Mann ihr diese Schuld hatten nehmen können.
    Elena setzte wieder an: »Damals schloss ich mit allem ab und gab mich seitdem ganz dem Schmerz und der Verzweiflung hin. Und dann sehe ich Lea plötzlich im Fernsehen!«
    Ihr Blick flackerte. Es war unglaubliche anstrengend für sie, darüber zu sprechen. Dennoch schien es sich positiv auf ihre Psyche auszuwirken, sich einem anderen Menschen anvertrauen zu können: Jemandem, der nicht ständig jedes Wort infrage stellte – es analysierte und auf die Goldwaage legte –, sondern sich vorbehaltlos anhörte, was sie zu sagen hatte.
    »Was lässt Sie so sicher sein, dass es Lea war?«, tastete sich Henning behutsam vor.
    »Ich konnte es spüren«, meinte sie mit gegen den Brustkorb gepressten Händen. »Hier drin habe ich gefühlt, dass sie es ist.«
    Der Ausdruck, mit dem ihr Gegenüber sie betrachtete, ließ Elena hinzufügen: »Sehen Sie hier«, sagte sie und wies auf einen kaffeebraunen Leberfleck, den der Kommissar zwar registriert, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Er saß direkt auf ihrem rechten Wangenknochen und ähnelte einem vom Daumen einer Mutter halb weggewischten Schmutzfleck.
    »Den hat Lea auch. An der gleichen Stelle!« Sie musste nicht hinzufügen, dass das auch für das Kind im Fernsehen galt. Henning hatte es erahnt, bevor sie es aussprach. Um ihre Worte zu unterstreichen, zog sie eine an den Rändern leicht vergilbte Fotografie aus der Tasche ihrer olivgrünen Strickjacke hervor und reichte sie ihm. »Das bin ich, als ich in etwa so alt war wie Lea jetzt ist.«
    Der Leberfleck war deutlich zu erkennen. »Das Kind im Fernsehen, es sah genauso aus! Auch wenn Sie mich für verrückt erklären. Ich weiß, dass es Lea war!«
    Henning musste daran denken, dass Marlies vor Kurzem etwas ganz Ähnliches geäußert hatte.
    Nur kam er so nicht weiter. Alles, was sie hatten, beruhte auf bloßen Vermutungen und der Tatsache, dass Leas sterbliche Überreste bis heute nicht geborgen werden konnten. Sie aber brauchten Fakten statt wilder Spekulationen.
    Also versuchte er sich darauf zu konzentrieren, was jetzt konkret zu tun war.
    Als hätte Elena seine Gedanken erraten, erkundigte sie sich zaghaft, wie er vorzugehen gedenke.
    Ihm war bewusst, wie viel für sie von seiner Antwort abhing. Er durfte sie nicht enttäuschen. Deshalb schlug er vor: »Ich könnte versuchen, einen Mitschnitt der
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