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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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Rex auf den zwischen den Bäumen liegenden Trampelpfad zu, an dessen Ende sich der Blick auf die unendliche Weite des Meeres auftat. Direkt unter ihnen befand sich der Strand. Dahinter lag die Ostsee wie ein silberner Spiegel unter der Kuppel eines schiefergrauen Himmels. In der frostigen Luft gefror sein Atem zu kleinen Wölkchen. Es war ungewöhnlich windstill. Direkt vor ihnen ragte die Greifswalder Oie aus dem Wasser. Die Sicht auf die kleine Insel war erstaunlich gut. Mit der Zeit hatte Henning das als Hinweis für einen baldigen Wetterumschwung zu deuten gelernt. Während er die malerische Küste betrachtete, fragte er sich, ob es einen Sturm geben würde.
    Als Rex ungeduldig an seiner Leine zu zerren begann, wandte Henning sich zum Gehen. Dabei brach unter seinen Füßen ein Stück Erdreich weg und polterte mit lautem Getöse dem menschenleeren Strand entgegen. Henning fröstelte, als er an die Urlauberin denken musste, die Ende Februar fast an der gleichen Stelle von herabfallendem Geröll und Erdmassen erschlagen worden war. Er sah den Küstenabbruch mit Sorge.
    Seine Miene hellte sich erst wieder bei dem Gedanken an den vor ihm liegenden Abend auf. Glücklicherweise gab es Peer und dessen Vater Wilhelm. Sie waren im Laufe der Jahre zu zwei Konstanten in seinem Leben geworden. Ihr wöchentlicher Skatabend stellte nicht nur eine erfreuliche Abwechslung dar, sondern bot ihm auch die Gelegenheit, von Peer den neuesten Tratsch der Wache zu erfahren. Leider hatte sich sein Freund in letzter Zeit rar gemacht. Der Grund dafür war Marlies, der es in Windeseile gelungen war, ihm den Kopf zu verdrehen. Über Hennings Gesicht huschte ein wehmütiges Lächeln.
     
    Als er ein paar Stunden später zum Haus seiner Freunde aufbrach, war es bereits stockdunkel. Auf sein Läuten wurde ihm von Marlies geöffnet. Sie war eine kleine, resolute Frau Anfang 30, deren üppige Formen ihre Vorliebe für gutes Essen spiegelten. Ihr rundes, von kupferroten Korkenzieherlocken umrahmtes Gesicht war von einem rosigen Schimmer überzogen, der von den Vorbereitungen für das Abendessen zeugte. Auch wenn die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln und um ihren Mund erahnen ließen, dass ein langer, anstrengender Arbeitstag hinter ihr lag, war das Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte, offen und warmherzig.
     
    Nach dem Essen brachte sie die Sprache auf ein Thema, das ihr schon die ganze Zeit über unter den Nägeln brannte. Es verstieß gegen ihre Schweigepflicht als Krankenschwester, aber sie wollte den drei Männern unbedingt von Elena Dierks erzählen.
    »Sie ist mit einem Nervenzusammenbruch bei uns eingeliefert worden«, begann sie. Sie erzählte von Elenas Vergangenheit und wie sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
    Die Zuhörer schwiegen betroffen. Während seinen Freunden ein Schluck Bier half, ihre Worte zu verdauen, sog Henning gedankenversunken an seiner Pfeife. Einerseits hatte Marlies’ Schilderung ihn neugierig gemacht und seinen kriminalistischen Spürsinn auf den Plan gerufen. Andrerseits riet ihm sein Verstand davon ab, sich einzumischen. Was, wenn sich herausstellte, dass die Frau sich alles nur eingebildet hatte, das Ganze aufgrund ihrer seelischen Verfassung auf einer reinen Wunsch – wenn nicht sogar Wahnvorstellung beruhte?
    Er wusste, welche Antwort sich Marlies von ihm erhoffte. Keine Frage: Sie wollte, dass er sich des Falls annahm, der von der Polizei längst zu den Akten gelegt worden war. »Frau Dierks befindet sich jetzt schon seit fast zwei Jahren bei uns in psychiatrischer Behandlung. Obwohl sie die ganze Zeit über brav ihre Medikamente geschluckt und an den Therapiesitzungen teilgenommen hat, zog sie sich immer mehr in sich zurück. Man brauchte sie sich nur anzuschauen. Allein ihre ausdruckslosen Augen sprachen Bände. Leben konnte man das nicht mehr nennen. Bestenfalls ein unter medizinischer Aufsicht stehendes Dahinvegetieren – und dann dieser plötzliche Wandel. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Wenn ihr das Leuchten in ihren Augen gesehen hättet, wüsstet ihr, wovon ich spreche.«
    »Pass bloß auf, dass du dich da nicht in etwas verrennst«, ermahnte Peer sie. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fügte er hinzu: »Ich war dabei, als man den Unglücksort gesichert und die Überreste des Kinderwagens aus dem Meer geborgen hat.
    Wenn du mich fragst, hatte der Säugling keinerlei Chance, den Sturz zu überleben. Selbst für den Fall, dass ich mich irren sollte, hätte er spätestens in
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