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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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die Hilfe von Stift und Papier wußte die Erinnerungsbewahrerin, in welcher Reihenfolge die einzelnen wichtigen Ereignisse aufzuführen waren. Als mir die Zeitbewahrerin erklärte, daß sie die Verantwortung für das Meißeln und Malen trug, war so viel Freude in ihrem Gesicht zu sehen, daß ich glaubte, in die Augen eines Kindes zu blicken, dem man gerade ein besonderes Geschenk gemacht hatte. Beide Frauen waren schon recht alt. Ich war überrascht, daß es in unserem Kulturkreis so viele alte Leute gibt, die vergeßlich, uninteressiert, unzuverlässig und senil sind, während die Leute hier draußen in der Wildnis mit jedem zusätzlichen Jahr nur noch weiser werden, weshalb ihre Meinung auch in jeder Diskussion sehr geschätzt wird. Sie sind Säulen der Kraft für die anderen und haben eine echte Vorbildfunktion.
    Ich zählte zurück und suchte in der Wand nach einer Einkerbung für den Tag meiner Geburt. In der Jahreszeit, die dem September entsprach, am neunundzwanzigsten Tag in den frühen Morgenstunden, war eine Geburt verzeichnet. Ich fragte, welches Stammesmitglied dies sei. Es war der Königliche Schwarze Schwan, ihr Stammesältester.
    Mein Mund blieb zwar nicht gerade vor Staunen offenstehen, aber viel fehlte nicht. Wie groß ist die Chance, am anderen Ende der Welt jemanden zu treffen, der im selben Jahr, am selben Tag und zur selben Stunde wie man selbst geboren wurde? Noch dazu, wenn einem dies vorhergesagt wird! Ich sagte Ooota, daß ich gern allein mit dem Königlichen Schwarzen Schwan sprechen würde. Er arrangierte es.
    Schon vor Jahren hatte man dem Schwarzen Schwan von einem spirituellen Partner berichtet, der in einer Person wohnte, die auf der oberen Hälfte des Globus in der Gesellschaft der »Veränderten« geboren worden war. Als er jünger war, wollte er aufbrechen, um diese Person zu suchen, aber man erinnerte ihn an die Vereinbarung, die besagte, daß jedem Partner fünfzig Jahre vergönnt sein sollten, um die eigenen Werte entwickeln zu können.
    Wir verglichen unsere Geburten. Sein Leben hatte begonnen, als seine Mutter, die viele Tage allein zu einem ganz bestimmten Ort gewandert war, mit den Händen eine Sandgrube aushob, sie mit dem besonders weichen Fell des Albino-Koala auslegte und sich darüberhockte. Mein Leben hatte in einem sterilen, weißen Krankenhauszimmer in lowa begonnen, zu dem auch meine Mutter die vielen Meilen aus Chicago anreiste, weil es der Ort ihrer Wahl war. Sein Vater war auf einem Walkabout und viele Meilen entfernt. Auch mein Vater war nicht in der Nähe gewesen. In seinem Leben hatte der Schwarze Schwan seinen Namen bereits mehrmals gewechselt. Genau wie ich. Er erklärte mir die Umstände, die zu dem jeweiligen Namenswechsel geführt hatten. Der seltene weiße Koala, der den Weg seiner Mutter gekreuzt hatte, war ein Zeichen dafür gewesen, daß der Geist des Kindes, das sie trug, dazu bestimmt war, andere zu führen. Er selbst hatte seine Verwandtschaft zum Australischen Schwarzen Schwan gespürt und später dem Schwan das Wort zugefügt, das eine Art Symbol für dieses Tier war - königlich. Ich erzählte ihm von den Umständen meiner Namenswechsel.
    Es spielte eigentlich keine Rolle, ob unsere besondere Verbindung nun eine Erfindung oder Wirklichkeit war. Es entstand sofort eine echte Partnerschaft aus ihr. Von diesem Moment an führten wir viele Kopf-zu-Kopf-Gespräche. Die meisten Dinge, über die wir redeten, waren sehr persönlich und wären hier fehl am Platz, aber ich will das wiedergeben, was meines Erachtens seine tiefsinnigste Bemerkung war.
    Der Königliche Schwarze Schwan erklärte mir, daß es in der Welt der Menschen immer zwei Gegensätze gäbe. Ich hatte darunter Begriffspaare wie Gut und Böse, Sklaverei und Freiheit, Konformität und ihr Gegenteil verstanden. Aber darum ging es nicht. Es gibt nämlich weder Schwarz noch Weiß, sondern nur verschiedene Grautöne. Und mehr noch, alles Graue bewegt sich in einem fortschreitenden Muster zum Schöpfer zurück. Ich kokettierte mit unserem Alter und sagte ihm, daß ich nochmals fünfzig Jahre brauchen würde, um das zu verstehen.
    Später an diesem Tag erfuhr ich im Zeitbewahrungsteil der Höhle, daß die Aborigines die Erfinder der Sprühfarbe sind. Ihrer großen Sorge um die Umwelt entsprechend, benutzen sie keine giftigen Chemikalien. Sie haben sich geweigert, mit der Zeit zu gehen, und deshalb haben sie noch heute dieselben Methoden wie vor 1000 Jahren. Sie malten einen Teil der Felswand mit
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