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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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Hilfe der Finger und einem Pinsel aus Tierhaar tiefrot an. Nach ein paar Stunden war diese Schicht getrocknet, und sie brachten mir bei, wie man aus weißer Tonerde, Wasser und Eidechsenöl weiße Farbe herstellt. Wir benutzten ein flaches Stück Baumrinde, um die Mixtur anzurühren. Als sie die richtige Konsistenz zu haben schien, falteten sie die Rinde zu einem Trichter, und ich ließ die Farbe in meinen Mund laufen. Es fühlte sich etwas ungewöhnlich an, aber die Farbe war fast geschmacklos. Als nächstes legte ich die Hände auf die rotgemalte Wandfläche und spuckte die Farbe um meine Finger herum. Schließlich entfernte ich meine vollgespritzten Hände, und da war er - ein Handabdruck der »Veränderten« auf der heiligen Wand. Es hätte keine größere Ehre für mich bedeutet, wenn mein Gesicht in der Kuppel der Sixtinischen Kapelle verewigt worden wäre.
    Ich verbrachte einen ganzen Tag mit dem Studium der Eintragungen auf der Wand. Sie hatten die Herrscher Englands registriert, die Einführung der Geldwirtschaft, das erste Auto, das ihnen zu Gesicht kam, ein Flugzeug, den ersten Düsenflieger, die Satelliten, die über Australien kreisten, Sonnenfinsternisse und sogar so etwas wie eine fliegende Untertasse, in der  »Veränderte« saßen, die noch veränderter aussahen als ich! Einige der Zeichnungen waren nach Augenzeugenberichten früherer Zeit- und Erinnerungsbewahrer entstanden, aber andere zeigten Ereignisse, von denen die Kundschafter, die in zivilisierte Gebiete geschickt worden waren, erzählt hatten.
    Früher hatten sie immer junge Menschen auf diese Erkundungsreisen geschickt, dann aber erkannten sie, daß diese Aufgabe für Jugendliche zu schwer war. Sie ließen sich zu leicht beeindrucken durch das Versprechen auf einen eigenen kleinen Geländewagen, das tägliche Eis und den Zugang zu allen anderen Wundern der industriellen Welt. Ältere Menschen waren standfester; auch sie spürten die Anziehungskraft des Magneten, aber sie gaben nicht nach. Es ist jedoch niemals jemand gezwungen worden, bei der Stammesfamilie zu bleiben. Manchmal kehrten verloren geglaubte Stammesangehörige auch wieder in den Schoß ihrer Familie zurück. Ooota hatte man schon bei der Geburt von seiner Mutter getrennt, was in der Vergangenheit nicht nur eine weit verbreitete Praxis war, sondern auch noch gesetzlich erlaubt. Um die Heiden zu bekehren und ihre Seelen zu retten, wurden die Kinder in Heime gesteckt, wo man ihnen verbat, ihre Muttersprache zu lernen und die heiligen Riten auszuüben. Sechzehn Jahre lang hatte man Ooota in der Stadt festgehalten, bis er wegrannte, um seine Wurzeln zu suchen.
    Wir mußten alle lachen, als Ooota von dem Regierungsprogramm erzählte, das den Aborigines Häuser zur Verfügung zu stellen versuchte. Die Menschen schliefen vor ihren Häusern und benutzten diese als Vorratskammern. So kam das Gespräch auch auf ihre Vorstellung von Geschenken und öffentlichen Zuwendungen. Für die Stammesleute ist ein Geschenk nur dann ein Geschenk, wenn man etwas gibt, was die beschenkte Person auch will. An einem Geschenk haftet keinerlei Bindung. Es wird ohne jede Bedingung gegeben. Der Beschenkte darf mit der Gabe machen, was er will: sie benutzen, zerstören oder weiterverschenken. Das Geschenk gehört jetzt ihm, und der Geber erwartet auch nichts als Gegenleistung. Wenn ein Geschenk diesen Kriterien nicht entspricht, ist es auch kein Geschenk, und man muß eine andere Bezeichnung dafür finden. Ich mußte ihnen zustimmen, daß die Zuwendungen der Regierung und auch das, was in meiner Gesellschaft unter einem Geschenk verstanden wird, diesen Maßstäben nicht entsprachen, und deshalb werden sie von den Stammesleuten auch anders bezeichnet. Aber mir fielen auch Menschen in meiner Heimat ein, die ständig Geschenke machen und sich dessen nicht bewußt sind. Sie sprechen uns Mut zu und lachen mit uns über komische Vorfälle, sie bieten uns eine Schulter, an der wir uns anlehnen können, oder sind einfach nur treue und aufrechte Freunde.
    Die Weisheit dieses Volkes erstaunte mich immer wieder aufs neue. Wenn doch nur sie es wären, die die Welt regierten, wie anders würden die Menschen miteinander umgehen!

25 • Mein Auftrag
    Am nächsten Tag gewährte man mir Zutritt zu dem Bereich der unterirdischen Höhle, der am besten abgeschirmt und nur mit großer Ehrfurcht betreten wurde.
    Thema der vorangegangenen Diskussionen unter den Stammesleuten war fast immer gewesen, ob man mir auch diesen Teil
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