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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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zeigen sollte. Wir brauchten Fackeln, um den Raum aus schillernden Opalen zu erhellen. Als das Licht des Feuers von den Wänden, dem Boden und der Decke des Raums zurückgeworfen wurde, irisierte es in brillanter Klarheit und allen Regenbogenfarben. Es war eines der schönsten Schauspiele, die ich jemals gesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, im Inneren eines Kristalls zu stehen, während die Farben mich umtanzten.
    Diesen Raum suchten die »Wahren Menschen« auf, wenn sie ganz konzentriert und direkt mit der Göttlichen Einheit Zwiesprache halten wollten. Bei uns würde man diese Art Zwiegespräch Meditation nennen. Sie erklärten mir, der Unterschied zwischen unserer Art zu beten und ihrer bestünde darin, daß die »Veränderten« durch ein gesprochenes Gebet Kontakt mit der spirituellen Welt aufzunehmen versuchten, während die Ureinwohner genau das Gegenteil tun.
    Sie hören zu. Sie verbannen jeden Gedanken aus ihrem Kopf und warten darauf, etwas zu empfangen.

    »Wer die ganze Zeit redet, kann die Stimme der Göttlichen Einheit nicht hören«, schien der dahinterstehende Gedanke zu sein.
    In diesem Raum hatten schon viele Trauungszeremonien und Feiern zum Namenswechsel stattgefunden. Die älteren Menschen gehen gerne an diesen Ort, wenn sie sterben. Als die Ureinwohner noch die einzigen Bewohner dieses Kontinents waren, gab es bei den verschiedenen Volkern unterschiedliche Begräbnisriten. Einige wickelten ihre Toten wie Mumien ein und begruben sie in Grabkammern, die sie in die Berghänge trieben. In früheren Zeiten hatten viele Körper im Ayers Rock ihre letzte Ruhestätte gefunden, aber sie sind jetzt natürlich alle verschwunden. Da der tote Körper für die Ureinwohner keine besondere Bedeutung mehr hat, verscharren sie ihre Toten oft einfach in flachen Sandgruben. Sie finden es völlig natürlich, daß der Mensch wieder zu Erde wird und wie alle anderen Elemente in den ewigen Kreislauf des Universums eingeht. In letzter Zeit haben viele Ureinwohner den Wunsch geäußert, nach ihrem Tod einfach unbedeckt in der Wüste liegengelassen zu werden, um dem Tierreich, das während des ganzen Lebenszyklus allen immer treu Nahrung gespendet hat, mit dieser Mahlzeit zu danken. Am meisten aber unterscheidet sich ihre Art zu sterben von der unseren nach meinem Verständnis darin, daß die »Wahren Menschen« wissen, wohin ihre Reise geht, wenn sie ihren letzten Atemzug auf Erden getan haben, und die meisten »Veränderten« nicht. Und wenn jemand weiß, wohin die Reise geht, scheidet er in Frieden und voller Zuversicht; wer es nicht weiß, wird immer mit dem Tod kämpfen.
    Im Edelsteinzimmer wird auch ganz besonderes Wissen vermittelt. In diesem Klassenzimmer kann man zum Beispiel die Kunst des Verschwindens erlernen. Man hat sich schon immer erzählt, die Aborigines könnten sich bei Gefahr in Luft auflösen. Die meisten städtischen Aborigines behaupten allerdings, dies sei alles Schwindel, denn es hätte nie Ureinwohner gegeben, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügten. Das stimmt so nicht. Draußen in der Wüste wird die Kunst der Illusion geradezu meisterhaft beherrscht.
    Die »Wahren Menschen« können mit dieser Methode sogar den Anschein erwecken, sie hätten sich vervielfacht. Aus einer Person werden so plötzlich zehn oder fünfzig. Dieser Illusionstrick erspart ihnen in lebensgefährlichen Situationen den Einsatz von Waffen. Die Angst des anderen ist ihr Kapital. Sie müssen sich eines Feindes nicht entledigen, indem sie ihn mit dem Speer durchbohren. Dadurch, daß sie scheinbar in Truppenstärke auftreten, können sie die Illusion unglaublicher Kraft erwecken. Ihr eingeschüchtertes Gegenüber läuft dann laut schreiend davon, um später von Teufeln und Zauberei zu berichten.
    Wir hielten uns nur wenige Tage in dieser heiligen Stätte auf, aber bevor wir weiterzogen, veranstalteten sie in ihrem Allerheiligsten eine besondere Zeremonie für mich. Während dieser Feier ernannten sie mich zu ihrer Sprecherin und vollzogen einen eigenen Ritus, der mir in Zukunft Schutz gewähren sollte. Das Ritual begann damit, daß sie meinen Kopf salbten. Sie setzten mir einen Kranz aus geflochtenem silbergrauen Koalapelz aufs Haupt, in dessen Mitte ein polierter Opal in einem Bett aus Harz ruhte. Dann beklebten sie mich überall, auch im Gesicht, mit Federn. Zu diesem Anlaß trugen alle Federkostüme. Es war eine wunderschöne Feier, in der sie mit Hilfe von Feder- und Schilfgrasfächern eine Windorgel erklingen
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