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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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warum die Missionare ihnen ihre Opfergaben an die Erde verbieten. Je weniger man von der Erde nimmt, desto weniger ist man ihr schuldig - und das wissen alle. Die »Wahren Menschen« verstehen nicht, warum es primitiv sein soll, eine Schuld zu bezahlen oder der Erde seinen Dank zu zeigen, indem man sein eigenes Blut in den Sand fließen läßt. Auch glauben sie, daß man es respektieren muß, wenn ein Mensch nicht länger essen und trinken will und sich unter den freien Himmel setzt, um sein irdisches Dasein zu beenden. Für sie ist es kein natürlicher Tod, an einer Krankheit zu sterben oder durch einen Unfall umzukommen. Denn schließlich könne man etwas Ewiges nicht durch äußere Gewalt umbringen. Was man nicht geschaffen hat, kann man auch nicht töten. Ihr Glaube an den freien Willen ist unerschütterlich: Aus freiem Willen entscheidet sich die Seele zu kommen, deshalb kann es auch kein Gesetz geben, das sie daran hindert, wieder zu gehen. Dies ist keine Entscheidung, die eine einzelne Person in der für uns greifbaren Realität fällt, sondern etwas, das ein allwissendes Selbst auf einer höheren, ewigen Ebene beschließt.
    Das Sterben ist für diese Menschen ein bewußter Willensakt. Im Alter von einhundertzwanzig oder einhundertdreißig Jahren, wenn der Gedanke an eine Rückkehr in die Ewigkeit dem Menschen sehr verlockend erscheint, fragt man die Göttliche Einheit, ob es zum Besten aller ist. Dann lädt man zu einem Fest, um das eigene Leben zu feiern.
    Seit Generationen gibt es bei den »Wahren Menschen« den Brauch, alle Neugeborenen mit einem bestimmten Satz zu begrüßen: »Wir lieben dich und werden dir auf deiner Reise beistehen.« Bei der letzten Feier seines Lebens wird der scheidende Mensch von allen umarmt und mit ebendiesem Satz verabschiedet.
    Es ist der erste und letzte Satz im Leben eines Menschen! Danach setzt sich dieser Mensch in den Sand und stellt alle Körperfunktionen ein. In weniger als zwei Minuten ist er gestorben. Es gibt weder Tränen noch Trauer. Sie versprachen, mir ihre Technik für den Übergang von der menschlichen in die unsichtbare Ebene beizubringen, sobald ich bereit sei für den verantwortlichen Umgang mit einem solchen Wissen.
    Die Bezeichnung »Veränderter Mensch« scheint auf den Zustand von Herz und Verstand anzuspielen und nicht auf die Hautfarbe eines Menschen. Es geht ihnen um die Einstellung: Ein »Veränderter« ist jemand, der die uralten Gesetze und ewigen Wahrheiten vergessen oder verdrängt hat.
    Schließlich mußten wir unser Gespräch beenden. Es war sehr spät, und wir waren alle erschöpft. Gestern noch war diese Höhle leer gewesen, und jetzt war sie voller Leben. Gestern noch war mein Kopf angefüllt mit dem Bildungsgut vieler Jahre, aber jetzt schien er wie ein Schwamm ein anderes, wichtigeres Wissen aufzusaugen. Ihre Art zu leben war für mich so fremd und unergründlich, daß ich dankbar war, als ich endlich vom Denken in eine friedliche Bewußtlosigkeit hinüberglitt.

24 • Archive
    Am nächsten Morgen erlaubten sie mir, den Teil der Höhle zu sehen, den sie Zeitbewahrung nannten. Die Stammesangehörigen hatten eine Art Schacht aus Steinen errichtet, durch den das Sonnenlicht hereinfiel. Nur einmal im Jahr scheint die Sonne ganz direkt und in einem bestimmten Winkel durch diesen Schacht.
    Dann wissen sie, daß ein ganzes Jahr vergangen ist, seit sie zum letzten Mal diesen Sonnenstand verzeichneten. Dies ist auch der Zeitpunkt für eine große Feier, bei der die Zeitbewahrerin und die Erinnerungsbewahrerin besonders geehrt werden.
    An diesem Tag vollziehen die beiden Archivarinnen ihr jährliches Ritual. Sie bedecken die Felsen mit einem Wandgemälde, das alle bedeutenden Ereignisse der vergangenen sechs Jahreszeiten der Aborigines zeigt. Alle Geburten und Todesfälle sowie andere wichtige Beobachtungen sind unter Angabe des Tages, der Jahreszeit und des jeweiligen Standes von Sonne und Mond verzeichnet. Ich habe über einhundertsechzig dieser Zeichnungen gezählt. So erfuhr ich auch, daß das jüngste Stammesmitglied dreizehn Jahre alt sein mußte und vier Leute in der Gruppe über neunzig waren.
    Damals wußte ich noch nicht, daß die australische Regierung an irgendwelchen Atomversuchen teilgenommen hatte - bis ich es auf der Felswand verzeichnet sah. Die Regierung hatte wahrscheinlich keine Ahnung, daß in der Nähe des Testgeländes Menschen lebten. Auch die Bombardierung der Stadt Darwin durch die Japaner war auf der Wand geschildert. Ohne
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