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Traum ohne Wiederkehr

Traum ohne Wiederkehr

Titel: Traum ohne Wiederkehr
Autoren: André Norton
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Öffnungsmechanismus gestoßen. Aus der Tiefe drang Licht zu ihr empor. Es war fahlgrün und unheimlich. Und mit dem Licht stieg ein Gestank hoch, über alle Maßen ekelerregend.
    Würgend vor Übelkeit wich Tam-sin zurück und wartete darauf, daß etwas Grauenvolles, Abscheuliches sich zeigen würde. Doch außer dem Licht und dem Gestank war offenbar nichts. Tam-sin hielt sich mit einer Hand die Nase zu und näherte sich erneut der halboffenen Luke.
    Sie zwang sich, hinunterzuschauen, obgleich alles in ihr sie davor warnte, und jede Faser ihres Körpers sich dagegen zu sträuben schien.
    Sie begriff nicht sogleich, was sie sah, dazu war das Grauen, das sie erfüllte, zu groß. Aber sie überwand sich dazu, die ungewöhnliche Fracht im Laderaum genauer zu betrachten und sie zu katalogisieren.
    Unmittelbar unter der Luke befand sich eine längliche Kiste, eher ein Sarg. Ein Mann lag darin. Oberhalb des Kopfes war eine Lichtkugel, von der dieses fahlgrüne Leuchten ausging. Aber …
    Zu beiden Seiten des offenen Sarges, neben- und übereinander, lagen – Leichen! Tam-sin ballte die Hand und preßte die Knöchel an die Lippen, um einen Schrei zu ersticken. Einige der Leichen mußten schon sehr lange dort unten liegen. Die Haut war nur noch wie dünnes Pergament über die Knochen gespannt. Doch dicht neben dem offenen Sarg, in Kopfhöhe, sah sie Kilwar, und neben ihm seine beiden Gefolgsleute. Die Männer hinter und teilweise unter ihnen waren vermutlich Pihuys Seeleute, die er an Bord zurückgelassen hatte. Aber im Gegensatz zu Kilwar und den beiden anderen wirkten sie seltsam ausgezehrt und ihre Gesichter eingefallen. Tam-sin hegte keinen Zweifel daran, daß sie tot waren.
    Kilwar! Ihr forschender Gedanke drang tief in den schlaffen Körper. Nein, nicht tot!
    Aber wie konnte sie ihn aus dem pestilenzialischen Gefängnis befreien?
    Die Seile, mit denen die Luke vertäut gewesen war! Sie langte nach den nebelklammen Stricken und plagte sich damit, die längeren zusammenzuknoten. Es war ihr noch nicht klar, was sie hier aufgedeckt hatte, aber sie ahnte, daß Kilwar nicht mehr viel Zeit blieb.
    Sie befestigte das Seil an der Reling und überprüfte, während sie zur Ladeluke zurückkehrte, jeden Knoten ihrer behelfsmäßigen Strickleiter.
    Doch jetzt mußte sie sich an das Allerschlimmste wagen. Sie mußte hinunter in diese Leichenhalle steigen, deren Gestand ihr den Magen umdrehte, und Kilwar aufwecken, genau wie seine Männer, sofern diese noch lebten. Es bedurfte all ihrer Willenskraft, an den Seilen hinunterzuklettern.
    Erst als sie sich über den Seekönig beugte, wurde ihr bewußt, welch schreckliche Kraft von dieser Falle ausging. Sie spürte sie in jedem Knochen, aber sie spürte auch, daß sie im Augenblick wohlig gesättigt schlief. Nur die Tatsache, daß dieses Wesen, das die Falle darstellte, sich über alle Maßen vollgefressen hatte, konnte Tam-sin in ihrer Rettungsaktion noch helfen – und hatte ihr bisher geholfen.
    Sie bückte sich nach Kilwars Schwert. Es war viel schwerer als ihr Dolch, und sie zog es unbeholfen, denn sie war nicht ausgebildet in der Benutzung einer solchen Waffe. Das Leuchten wurde stärker. Sie warf einen Blick auf die Lichtkugel und bemerkte ein Wirbeln in ihrem Innern.
    Da war – Leben!
    Die Kugel …
    Etwas kam auf sie zu, drückte gegen sie, hüllte sie ein, drohte ihr die Luft aus der Lunge zu pressen, sie zu ersticken. Dieser grauenvolle Gestank ging davon aus, und sie befürchtete sich übergeben zu müssen, und sie wußte, daß dieses Etwas auch sie überwältigen würde.
    Sie krallte die Finger in Kilwars Schultern und schüttelte ihn. Sie war sicher, daß noch ein Funken Leben in ihm flackerte. Er mußte erwachen, mußte sich selbst helfen, denn nun stand sie einer Gefahr gegenüber, die um ein Vielfaches mächtiger war, als jegliche, der sie je im Wachen oder Träumen ausgesetzt gewesen war.
    »Kilwar!« Sie schrillte seinen Namen und spürte, wie er sich ganz schwach bewegte. Sie konnte ihn nicht näher zu den Seilen ziehen, er war zu schwer für sie. Und jetzt rollte er noch gar gegen sie und drückte sie gegen die Seite des Sarges.
    Zum erstenmal blickte sie direkt in das Gesicht des darin liegenden Mannes – und erkannte es …
    Es war Kas! War er tot? Seiner Lebenskraft beraubt wie die anderen hier? Oder schlief er?
    Das Licht der Kugel pulsierte jetzt. Ein ungeheures, abstoßendes Selbstvertrauen ging von ihr aus, das noch größere Übelkeit in Tam-sin hervorrief.
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