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Tränen des Mondes

Tränen des Mondes

Titel: Tränen des Mondes
Autoren: Di Morrissey
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aber auch dazu war es nie gekommen. Und im Internat, unter all den Schulkameradinnen, die von ihren Familien erzählten und ihre kleinen Geheimnisse teilten, hatte Lily wenig beizusteuern gehabt und es lieber in Kauf genommen, daß die anderen dachten, sie verheimliche ihnen etwas, als ihnen zu gestehen, daß sie kaum etwas über ihre Herkunft wußte. Hatte Sami etwa vor dem gleichen Problem gestanden?
    Womöglich hatte die emotionale Erschütterung ihres Lebens, dieser Kummer, der Schock, sie zu der Erkenntnis gebracht, daß sie ihrer Tochter etwas schuldete. Lily erkannte, daß die Zeit gekommen war, sich dem Leben zu stellen – der Vergangenheit wie der Zukunft.
    Auf seltsame Weise waren ihre Lebensgeister wieder erwacht, sie fühlte sich geradezu verjüngt. »Ich hoffe, du findest jetzt endlich deinen Frieden, Georgie. Aber ich habe noch etwas zu erledigen. Familienangelegenheiten. Ich ziehe gen Westen.«
    Lily hob die Perlenkette an und küßte den Anhänger. Zum ersten Mal in diesen langen Wochen konnte sie wieder lachen.
     
    Lily saß in einer der vorderen Reihen am Fenster in eine Tageszeitung vertieft. Sie schreckte auf, als die Flugbegleiterin den kleinen Tisch vor ihr herunterklappte und ein Essenstablett vor sie hinstellte.
    Lily lächelte sie entschuldigend über ihrer Zeitung an. »Tut mir leid, ich habe gelesen.«
    Die junge Stewardeß in Uniform lächelte zurück. »Tee oder Kaffee?«
    »Tee bitte.«
    Während sie den dampfenden Tee einschenkte, schaute die Stewardess die attraktive Frau freundlich an. »Wollen Sie in Darwin Urlaub machen?«
    Das Kabinenpersonal hatte die hübsche Vierzigjährige in den beigen Leinenhosen und der cremefarbenen Seidenbluse interessiert beäugt. Das kräftige dunkle Haar war zu einem lockeren Knoten geschlungen, der Goldschmuck dezent, aber teuer. Eine ›Frau mit Klasse‹, wie die Crew konstatierte. Zart gebräunte Haut, große dunkle Augen, der breitgeschwungene Mund schön geformt. Sie war eine dieser Frauen, deren Schönheit sich allmählich erschloß und lange nachwirkte.
    Lily antwortete mit ihrer weichen, rauchigen Stimme.
    »Eigentlich bin ich auf dem Weg nach Broome.«
    »Oh, mit seinen Traumstränden der ideale Urlaubsort!«
    »Na ja, ich habe geschäftlich dort zu tun. Familienangelegenheiten. Wie lange habe ich Aufenthalt in Darwin?«
    »Fünf Stunden, fürchte ich. Sie müssen in eine andere Maschine umsteigen.«
    Mit einem bedauernden Lächeln ging die Flugbegleiterin weiter zur nächsten Sitzreihe.
    Als sie nach einer Weile mit neuem Tee zurückkam, lag Lily in ihren Sitz zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Der versonnene Ausdruck in ihrem Gesicht duldete keine Störung.
    Lily schlief nicht, obwohl sie müde war. Psychisch und physisch erschöpft. Sie hatte die Einlagerung der Möbel, den Verkauf vieler Gegenstände und verschiedene Spenden aus Georgianas Besitz organisiert. Die Wohnung war leergeräumt und sauber und nunmehr in Händen eines Immobilienmaklers. Lily hatte die halbe Nacht gepackt und alles übrige für die Haushälterin vorbereitet, die sich während ihrer Abwesenheit um alles kümmern sollte. Sie war früh aufgestanden, hatte noch einmal mit Sami telefoniert, um ihr zu sagen, daß sie nun auf dem Weg sei und im Hotel Continental in Broome wohnen würde. Sie würde regelmäßig anrufen.
    Lily sah diese Reise als eine Art Wendepunkt in ihrem Leben. Es war ihr bewußt geworden, daß sie eine ganze Weile schon auf der Stelle trat und erst vorankommen würde, wenn sie mit ihrer Vergangenheit im reinen war. Schon merkwürdig, daß sie die Vierzig erreicht hatte, ohne wirklich zu sich selbst gefunden zu haben. Aber vielleicht gab es für alles im Leben den richtigen Zeitpunkt.
    Mit Samis Vater hatte sie eine konventionelle Ehe geführt. Mit der Zeit war sie schal geworden, beide hatten begonnen, sich auseinanderzuleben. Er, indem er sich in den Elfenbeinturm des akademischen Lebens als Universitätsdozent verkroch, während sie, für alles Neue aufgeschlossen, ihren Horizont erweiterte und nach neuen Perspektiven für ihr Leben suchte.
    Vier Jahre nach ihrer Scheidung hatte Lily Anthony Jamieson – Tony – kennengelernt, einen Witwer, dessen Frau zwei Jahre zuvor gestorben war. Nach ihrem Tod hatte er sich gefühlsmäßig abgekapselt, und war, trotz seiner Gewandtheit und Professionalität im Beruf, ein verletzlicher Mann. Im Alter von zweiundfünfzig Jahren verspürte er keinen Wunsch, sich jemals wieder ernsthaft in eine Frau zu
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