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Tränen des Mondes

Tränen des Mondes

Titel: Tränen des Mondes
Autoren: Di Morrissey
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einmal tot bin, wirst du mein Leben hier in diesem Koffer finden.«
    Lily hatte den Koffer nie aufgemacht, hatte aber darauf bestanden, daß ihre Mutter ihr Testament, ihre Aktien und ihre Investmentpapiere herausnahm und bei der Bank deponierte.
    Lily zog den Koffer in die Mitte des Zimmers, nahm noch einen Schluck Wein und ließ die altmodischen Schlösser aufschnappen. Ein leichter Geruch von Mottenkugeln entstieg seinem Innern. Lily zog das zuoberst liegende Seidenpapier fort und fand mehrere unordentliche Bündel von Fotografien und Briefen. Sie blätterte aufs Geratewohl durch einen der Stapel. Es waren Liebesbriefe von Georgiana und den zahlreichen Männern in ihrem Leben. Andere Briefe stammten von ihren zahlreichen Reisebekanntschaften. Sie hatte mit vielen von ihnen noch eine Zeitlang korrespondiert, bis die Entfernung und nachlassendes Interesse den Briefkontakt ausklingen ließen.
    Eine vertraute, wenngleich kindliche Schrift erweckte Lilys Aufmerksamkeit. Gerührt hielt sie all die Briefe in der Hand, die sie ihrer Mutter aus dem Internat geschrieben und die diese säuberlich zusammengebunden hatte. Georgiana war keine gute Briefschreiberin gewesen, sie bevorzugte das Telefonieren. Lily hatte sich nie des Verdachts erwehren können, daß die Briefe ihrer Mutter an sie in Wirklichkeit für ein großes Publikum gedacht waren, zum Vorlesen und Bewundertwerden. Es waren dramatische und detaillierte Beschreibungen von exotischen Orten, in die witzige und maßlos übertriebene Anekdoten eingestreut waren. Das Ganze in einer großzügigen, freien Handschrift auf dickem Hotelbriefpapier.
    Der Koffer enthielt noch Dutzende von Fotos, die Georgiana mit Freunden zeigten oder auf Reisen. Ein Foto war in Seidenpapier eingeschlagen. Neugierig zog Lily das Papier fort und hielt eine vergilbte Fotografie in einem schmalen Silberrahmen in der Hand. Sie erblickte einen gutaussehenden Mann in einer weißen Marineuniform mit keck aufgesetzter Mütze. Trotz der förmlichen Pose schien ein Lächeln um Augen und Mund des Mannes zu spielen. Lily hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen und fragte sich einen Moment lang, ob dies wohl ihr Vater sei. Dann fiel ihr ein, daß er ja in der Armee gewesen war. Sie drehte den Rahmen um, öffnete ihn und las auf der Rückseite des Fotos in zittriger Handschrift die Worte
›Broome 1910‹
. Der Mann auf dem Foto war zu alt, um einer der Liebhaber ihrer Mutter gewesen zu sein, und da Georgianas Familie, wie Lily wußte, aus dem Westen stammte, gab es hier offensichtlich eine Verbindung.
    Es gab noch mehr Fotos, von Bällen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen, in Gärten von unbekannten Häusern. Ein junger Mann in Uniform tauchte auf mehreren Fotos auf, die, dem Auto im Hintergrund nach zu schließen, in Amerika aufgenommen sein mußten. Es gab Aufnahmen aus aller Welt und immer mit Georgiana im Mittelpunkt, mit Elefanten, vor Schlössern oder in Gesellschaft lächelnder Menschen. Dann gab es Fotos von Lily auf ihren gemeinsamen Urlaubsreisen und einige Kinderfotos von ihr, mit einem Spielzeugsegelboot, auf der Schaukel oder fürchterlich aufgedonnert mit Hut und Schleife und niedlichen Lackschuhen – ihren ›Shirley-Temple-Schuhen‹, wie ihre Mutter sagte.
    All diese Aufnahmen dokumentierten jedoch nur das Leben Georgianas, nachdem sie Australien verlassen hatte. Es gab kein nis von ihrer Familie, ihrer Kindheit oder ihrem Heimatland. Nichts, bis auf das geheimnisvolle silbergerahmte Foto von dem Mann aus Broome.
    Lily war jetzt auf dem Boden des Koffers angekommen. Da lag noch eine Schachtel. Sie enthielt einen Brief und ein stoffumwickeltes Päckchen. Mit zittrigen Fingern machte Lily den Brief auf, der in der Handschrift ihrer Mutter an sie adressiert war.
    Liebste Lily,
    ich wollte dir dies immer schon geben, fand aber nie die richtige Gelegenheit dazu. Ich zögerte, weil ich wußte, du würdest Fragen stellen, auf die ich nicht alle Antworten weiß.
    Ich hatte eine so unbeständige Jugend, daß ich kein Interesse an meiner Vergangenheit hegte. Ich zog es vor, dem Leitspruch zu folgen: ›Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß.‹ Ich glaube, daß ich seit dem Krieg nach dem Grundsatz ›Das Leben ist heute‹ lebte.
    Diese gehören nun dir, denn sie werden schon seit Generationen in unserer Familie von einer Frau an die nächste weitergegeben. Als meine Großmutter sie mir gab, sagte sie zu mir: »Trage sie nah an deinem Herzen, wie ich es getan habe. Wenn sie nicht
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