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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt
Autoren: Sam E. Maas
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nicht mehr“, flüsterte er und trat eine Dose in die Hecke.

I
    „Was ist das Besondere an ihm?“, fragte sie. Denn sie sah bloß einen jungen Mann, der vorhatte, sein ohnehin kurz bemessenes Leben ein wenig früher zu beenden. Einen gewöhnlichen Junkie.
    „Der Spieler hat seine Gründe“, sagte der Doktor und schlürfte an seinem Kaffee.
    Ihr Gesicht verzog sich bei dem Geräusch, er ekelte sie an. Ihm fehlte jeglicher Respekt und das Schlürfen war Ausdruck seiner Verachtung. Ständig suchte er nach neuen Wegen, sie zu ärgern und zu schikanieren. Für den Alten war sie nichts weiter als eine ungeliebte Handlangerin.
    „Der Spieler beschafft Ihnen ein Versuchsobjekt“, stellte sie fest.
    „Merkwürdig, nicht wahr, Marie?“
    Schon die Art wie er mit ihr sprach, wie mit einem Kind, als sei sie minderbemittelt. Marie durfte nicht darauf eingehen.
    „Wie gehen wir vor?“, fragte sie.
    „Erst einmal, testen wir ihn“, antwortete er.
    „Wie?“
    „Geh! Bring die Tasche“, befahl er.
    Schweigend öffnete sie die Wagentür, stieg aus, ging zum Kofferraum, nahm die braune Ledertasche heraus, machte die Klappe behutsam zu und kehrte zurück. Diese ständigen Befehle, sie war doch kein Hund! Es machte sie krank, in seinem Schatten zu stehen. Sie nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz und schlug entnervt die Wagentür zu.
    Das Knallen der Tür durchbrach die Stille der nächtlichen Siedlung. Hatte sie ihre Position verraten? Zumindest der Doktor ging davon aus und kommentierte ihren Fehler sogleich mit einem gequälten Ächzen. Beide blickten gespannt zu dem auf der Parkbank sitzenden Junkie und warteten seine Reaktion ab. Marie hatte ihn tatsächlich aufgeschreckt. Er richtete sich auf und machte sich bereit, die Flucht anzutreten. Noch hielt ihn etwas davon ab. Wie ein ängstliches Reh sondierte er den Parkplatz, sah sich jedes einzelne Auto an, auch das, in dem die beiden sich befanden. Offenbar sah er sie nicht, denn der Blick des Mannes driftete zur Straße ab, wo sich gerade ein anderer Wagen in Bewegung setzte. Er glaubte wohl, die Quelle des Geräusches ausfindig gemacht zu haben und setzte sich schließlich wieder hin.
    Nachdem sie sich sicher war, dass der Junkie sich beruhigt hatte, reichte Marie dem Alten die Tasche. Er reagierte nicht. Unbekümmert sah er weiter aus dem Fenster und beobachtete das Zielobjekt. Sollte das wieder so ein dämliches Willensduell werden? Sie fasste es zumindest so auf und zog die Tasche nicht zurück.
    Irgendwann musste er mit seiner Arbeit beginnen, deswegen waren sie ja hier, sagte sie sich nach einer Weile.
    Der Alte war die Ruhe selbst und machte noch immer keine Anstalten, nach der Tasche zu greifen. Diese wog mittlerweile schwer unter dem ausgestreckten Glied und ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Doch der Arm blieb, wo er war, sie durfte keine Schwäche zeigen.
    Er konnte gar nicht verlieren, wurde ihr bewusst, er saß am längeren Hebel. Quälende Sekunden verstrichen, die Anspannung wurde größer und das Zittern ließ sich nicht länger verbergen. Heiße Wut stieg in Marie auf, dann reagierte er endlich.
    „Die Tasche. Gut“, sagte er, aber nahm sie immer noch nicht entgegen.
    Sie wollte schreien.
    Seelenruhig stellte er seinen Kaffee ab und ließ den Autositz nach hinten gleiten, um mehr Platz zu schaffen. Danach zog er die Nase hoch — es war sein letzter Versuch Zeit zu schinden — und nahm ihr die Last aus der Hand.
    Sie mochte ihn nicht länger ertragen und blickte zum Zielobjekt herüber, welches seine tänzelnden Füße begutachtete.
    Dummerweise konnte sie den Doktor nicht ausblenden. Sie hörte, wie er in der Tasche wühlte, hörte das Klirren gegeneinander schlagenden Glases, das Knirschen von Verpackungen und aus dem Augenwinkel nahm sie dessen schemenhaften Bewegungen wahr. Gerade betrachtete er das Etikett einer Ampulle; der Alte hatte Schwierigkeiten, die kleinen Buchstaben im spärlichen Schein der Straßenbeleuchtung zu lesen. Marie ahnte, was er tat, er braute einen Cocktail zusammen. Das musste der Test sein. Obwohl ihr schon jedes Detail seiner Visage vertraut war, sah sie sich den Alten ganz genau an — Marie suchte ständig nach Schwachstellen. Sein Kopf war von kurzen, weißen, nach hinten gekämmten Haaren umhüllt. An den Seiten waren hier und da ein paar dunkle Flecken, welche nicht völlig verbleicht waren. Die faltige Stirn lag brach. Die Augenbrauen waren dünn, bestanden aus wenigen zu langen, scheinbar chaotisch
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