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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt
Autoren: Sam E. Maas
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Prolog
    Ohne sein Zutun hatten seine Füße ihn vorangetrieben. Erst war der eine vorgeschnellt, dann der andere. Sein linker Fuß lahmte ein wenig. Er schmerzte vom weiten Weg über Beton und Asphalt. Der erste Schritt auf dem grünen Rasen und er hielt inne, warf einen letzten Blick über seine Schulter. Obwohl es schon spät war, waren sie überall gewesen: Menschen mit ihren kalten Gesichtern, Hindernisse, denen es auszuweichen galt.
    Seine Augen visierten jetzt die nächstgelegene Bank an und er setzte sich wieder in Bewegung, nur um auf halbem Weg abermals zu stoppen.
    Er betrachtete seine im Gras versunkenen Füße. Eine seltsame Schwingung machte sich breit. Von den Beinen ausgehend erreichte sie seinen Kopf und hinterließ den Eindruck eines kurzen Bebens. Es war nur vorübergehender Schwindel, bildete er sich ein, atmete durch und ging weiter. Dabei entlastete er den wunden Fuß wie ein lahmes Tier.
    Im Park würde er Ruhe finden, hatte er sich gesagt, aber der Schwindel war kein normaler Schwindel. Es war sein Hirn, das sich zurückgemeldet hatte. Beim Marsch durch die Stadt hatte es sich im Hintergrund gehalten. In seinem Kopf, das spürte er jetzt ganz deutlich, braute sich etwas zusammen und dagegen war er machtlos.
    Machtlos? Nein, nicht ganz, fiel ihm ein, als er auf der Bank Platz nahm. Es gab da eine Lösung. Altbekannte Bilder, einstudierte Szenen entfalteten sich vor seinem Geist. Mit einem Messer schlitzte er sich die Hände auf, verteilte das Blut fontänenartig auf weißen Laken. Wundervoll. Nein, es ging noch besser, erinnerte er sich. Das Messer durchtrennte jetzt seine Kehle. Flop, sah er den Kopf nach hinten fallen. Wo? Auf einer öffentlichen Toilette, haha … nein, er musste sich vor den fahrenden Zug werfen! Haha, lachte er wieder, denn er würde es einfach jemand anderen tun lassen. So müsste er lediglich einen Schritt machen, sonst nichts. Was könnte schon leichter sein? Er ging jeden Tag Tausende von Schritten, da konnte er auch diesen einen dazwischenmogeln. Genau, er würde einfach, einfach, „Einfach mal die Fresse halten!“
    Es war nämlich gar nicht einfach, vielmehr war es extrem schwierig, es zu tun. Er hatte schließlich oft genug mit der Idee gespielt und es nicht getan. Irgendetwas ließ es nicht zu — Angst, ein schlechtes Gewissen, die Hoffnung nicht ganz so schlecht zu sein.
    Er musste an etwas anderes denken, musste sich ablenken und zwar solange, bis er an seinen Stoff kam. Allein deswegen war er hier, Drogen hielten sein Gehirn davon ab, sich zu zermürben. In der Zwischenzeit musste er aufpassen, nicht mehr an das Messer zu denken. Dazu musste er seine Fantasie in Gang setzen und — „Feeehler! Am Besten gar nicht denken“.
    Seine Augen wanderten den Garten auf und ab, es war schön hier. Ein kleiner Pfad schwang sich durch das Grün, vorbei an den Bäumen und Gewächsen, deren Namen er nicht kannte, führte weg vom urbanen Raum hinein in die Oase. Wozu Städte errichten, wenn man all dies haben konnte?
    Weil dieser Garten nicht echt war, weil der Garten zur Stadt gehörte wie der Beton und der Asphalt. Die Wildnis war anders, war menschenfeindlich.
    Menschenfeindlich? Er kicherte und blickte auf die hohen Häuser, Burgen, die dem Himmel trotzten. Man hatte bloß eine Wildnis durch die andere ersetzt. Was hatte man sich nur dabei gedacht?
    Das Problem war, dass niemand wusste, was richtig war. Man konnte zwar denken, aber das hieß noch lange nicht, dass die Gedanken auch richtig waren. Gedanken, das waren Worte, eine Stimme, die pausenlos vor sich hin plapperte und dennoch zu keinem Ergebnis kam.
    Die Stimme in seinem Kopf brachte keine Ordnung, vielmehr machte sie ihn wahnsinnig. Sie hörte sich schlicht und ergreifend grauenhaft an. Es war eine hohe Stimme, die in den Ohren schrill läutete, weswegen er meistens leise, fast flüsternd sprach, um ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Je weniger Leute ihn hörten, desto besser.
    Hörte die Kopfstimme sich eigentlich an wie seine Sprechstimme, vielleicht klangen sie ja verschieden? Aber wieso sollte die Kopfstimme eine andere sein? Man wusste doch, wie sich die eigene Stimme anhörte und dann imitierte man sie, oder etwa nicht?
    „Hallo, ich bin Sebastian“, sagte er.
    Also, war es nun die Gleiche?
    „Ich bin Sebastian“, versuchte er es wieder.
    Mist, so redete er doch gar nicht, er hatte sie verstellt.
    „Ich bin Sebastian“, flüsterte er.
    So ging es auch nicht. Wenn er flüsterte, verstellte
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