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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt
Autoren: Sam E. Maas
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wachsenden, sich kringelnden Borsten. Die Bartstoppeln waren grau, die Haut dagegen machte einen lebendigen Eindruck, war zartrosa und nur an wenigen Stellen von Altersflecken gebräunt. Das Gesicht hing leicht nach unten wie Kerzenwachs. Es schien sich am lappigen Hals und unter dem Kinn sammeln zu wollen. Der Alte war nicht dick, vielmehr hager. Das Gewebe seines Körpers war bloß schlaff. Große Ohren, aus denen Haare hervorguckten, kleine, trübe Augen, deren Pupillen von den Lidern halb bedeckt wurden. Augen, die schon so viel gesehen hatten und hinter ihnen ein Geist, der alles gierig hortete und für sich behielt. Sein Mund war schmal, die Lippen kaum auszumachen, weil er sie ständig zusammenpresste, wodurch die Falten, welche sie umzäunten noch tiefer wirkten. Seine Nase hatte einen kleinen Höcker … er war nicht hässlich, nur alt. Als junger Mann musste er richtig attraktiv gewesen sein.
    Ein seltsames Paar gaben die zwei ab, der hässliche Alte und die schöne Junge. Ein Lächeln flimmerte auf, doch sie unterdrückte es. Ihre Haut, ihr kleiner Busen und der Hintern waren straff, das Haar voll und blond, die blauen Augen funkelten richtig im Gegensatz zu denen des Alten. Bei ihr stimmten die Proportionen weitgehend, sie hatte eine hohe Stirn, kleine Nase und hohe Wangenknochen. Sie war kein Model, nur eine Schöne unter vielen.
    Nun machte sie sich daran, das Zielobjekt zu beobachten. Sie versuchte zu verstehen, was es mit dem Mann auf sich hatte. Im Übrigen mochte sie den Doktor nicht länger ertragen.
    Äußerlichkeiten verrieten viel über einen Menschen. Man sah sofort, wenn etwas nicht stimmte, ob jemand genetischer Müll war. Der Junkie war ungepflegt, Standard für einen Vertreter seiner Art. Seine Sippe hatte keine Zeit für falsche Eitelkeiten. Wen sollte er denn beeindrucken, seinen Dealer etwa? Nein, er war hier, um sich die nächste Dröhnung zu verschaffen und nicht um einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.
    Aus der Ferne betrachtet war er recht unauffällig. Seine Haltung ließ zu wünschen übrig. Seine Schultern hingen nach unten und er hielt den Rücken nicht gerade. Der Kerl wäre recht ansehnlich, wenn er nicht so kaputt gewesen wäre. Das wusste sie vom Foto, das der Doktor ihr gezeigt hatte. Dunkelblondes, eher hellbraunes Haar, braune Augen mit einem Stich ins Grüne. Ein Babyface, an dem es nichts auszusetzen gab, außer eben, dass er wie ein Junge aussah, müde und verschlissen wirkte. Und die Kleidung! Wie alt war er noch mal? Auf jeden Fall zu alt für das dämliche Gangster Outfit, das er trug.
    Er hatte keine Zeit, etwas aus sich zu machen, weil er ständig dem Geld hinterherlaufen musste: Junkie zu sein war ein Fulltimejob. Sicherlich beging er Diebstähle oder er prostituierte sich.Es war einfach herrlich mit anzusehen, was Drogen aus ihnen machten. Sie seufzte. Man müsste ihm mehr Zeit lassen, die hässliche Raupe steckte noch mitten in ihrer Entwicklung hin zum Schmetterling.
    Der Mann war nervös. Er konnte überhaupt nicht ruhig sitzen bleiben und bald würde er voll auf Turkey sein. Sie schmunzelte. Kaum entspannte sich der Kerl, zuckte er wieder zusammen, ständig rutschte er hin und her. Er saß auf der Rückenlehne, nicht auf der Sitzfläche, denn coole Typen machten das so.
    Demnächst würde er weiterziehen, erkannte sie. Das hieß, falls sie ihm etwas unterjubeln wollten, müssten sie sich beeilen. Notgedrungen warf Marie einen Blick auf den Alten. Der hatte in der Zwischenzeit gefunden, wonach er suchte und hatte damit begonnen, die verschiedenen Substanzen in einer Spritze zu vermengen.
    „Kann ich ihn zwingen?“, fragte sie.
    „Nein. Das würde mir die Sache unnötig erschweren. In Hinblick auf die Zukunft, meine ich … Zukunft?“, ungläubig wiederholte er das Wort.
    „Glaube kaum, dass er sich das so ohne weiteres in den Arm drückt“, merkte sie an.
    „Die Substanz wird Oral verabreicht, nicht intravenös. Ich habe sie nur in der Spritze angemischt.“
    „Was ist da drin?“
    Sie sah sich die Ampullen an.
    „Hast du Medizin studiert?“, fragte er. „Bist du Chemikerin?“
    „Nein.“
    „Du hast nicht einmal einen Geisteswissenschaftlichen Abschluss, nicht wahr? OK, angenommen, ich nenne dir die Substanzen, sie würden dir nichts sagen, oder?“
    „Nein, Doktor“, antwortete Marie.
    Du Arschloch, dachte sie.
    „Und in ihrer Gesamtheit erst recht nicht.“
    „Nein, Doktor“, sagte sie. Es kostete Kraft, die Worte zu bilden. Eines Tages
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