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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt
Autoren: Sam E. Maas
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Vater große Sorgen gemacht, was aus dem Jüngsten werden sollte und wenn es nach Großvater gegangen wäre, hätten sie Johann weggeben. Erst hatten sie ihn aus allem heraushalten wollen, denn sie hatten Angst gehabt, er würde sich da draußen verplappern. Die Angst war unbegründet gewesen. Wie sich herausstellte, schwieg Johann wie ein Grab. Das war auch besser so, denn die Engel konnten grausam sein, sehr grausam.
    Das Paket war nun in der Kiste verstaut und sie machten sich auf den Weg zum Ofen. Lars ging vor, sein Bruder schob die Bare. Kamen sie an eine der zwei Türen, welche auf ihrem Weg lagen, öffnete Lars sie für Johann.
    Lars erzählte gerne Geschichten, während sie arbeiteten, weil es ihn ablenkte, die Sache von damals kam sonst zurück. Leider hatte er sich heute vorgenommen, seinem Bruder eine Lektion zu erteilen. Er war kein Psychologe, er würde nie erfahren, wieso das Erlebte dermaßen an ihm nagte. Zum Psychologen zu gehen, würde ihm gut tun, theoretisch zumindest, denn da lag viel im Argen. Zum Psychologen zu gehen, das wäre sein Todesurteil gewesen, er durfte nämlich mit niemanden reden. Das hatten sie ihm gesagt, ihm persönlich!
    Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen. Vater, der sich von niemand etwas hatte sagen lassen, hatte schweigend in der Ecke gestanden und zu Boden geschaut. Einer von denen hatte Lars an die Hand genommen, schroff zum Paket gezerrt und es aufgerissen — mit den bloßen Händen hatte er das widerspenstige Plastik zerrissen! Das Gesicht einer jungen Frau war hinter dem schwarzen Plastik erschienen. Blasse Haut, die Augen geschlossen — sie war so wunderschön gewesen!
    „Sieh mich an, Junge“, hatte der Engel gesagt, aber Lars hatte die Augen nicht von der Frau nehmen können. Was er da zu sehen bekommen hatte … es war nicht fair, es war nicht richtig. Was um Himmels Willen hätte sie schon getan haben können, um solch ein Schicksal zu verdienen?
    „Sieh mich an, Junge!“
    Wie hypnotisiert hatte er sich dem Sprecher zugewendet, der Mann hatte sich verändert, seine Zähne waren gewachsen, schief und Spitz. Seine Hand — die Fingernägel waren nicht mehr kurz, sondern lang wie Krallen! Seine Hand fuhr ihm durch die Haare und über das Gesicht. Wo die Nägel seine Haut berührt hatten, platze sie auf, war Blut hervorgetreten. Da hatte er plötzlich zugegriffen, riss ihn am Haar und drückte seinen Kopf an die schöne Tote, immer näher bis Gesicht an Gesicht gelegen hatte. Kalt war sie gewesen, eiskalt, frisch vom Kühlschrank. Sie duftete zärtlich, nicht nach tot, sondern nach Blüten wie Jasmin, Rose und Maiglöckchen.
    „Sieh sie dir an, Junge! Das geschieht mit den Frevlern.“
    Lars fragte sich heute noch, ob sich nur kindliche Fantasie und Realität vermischt hatten und er auf diese Weise den Wahnsinn — denn das war es, was sie da taten — verarbeiten konnte oder ob es wirklich geschehen war.
    Nie wieder sah er die Engel ihre Form ändern, obwohl er die Chance gehabt hätte. Jahre später waren sie nämlich wieder gekommen und hatten seine Söhne mitgenommen. Einem nach dem anderen hatten sie gezeigt, was mit den Frevlern geschah, was geschah, wenn man nicht gehorchte. Lars hatte weggesehen, wie Vater hatte er zu Boden geblickt und nichts gesagt. Das Schweigen hing über der Familie, war Teil des Lebens. Es half, keine Dummheiten zu machen. Ihr Leben hing davon ab.
    Man empfand instinktiv Ekel vor dem Geruch brennender Körper. Es war schwer, ihn zu beschreiben, es handelte sich ja um ein Gemisch aus unterschiedlichen Gerüchen. Muskeln, Fett, Haut und Haare hatten einen jeweils eigenen Geruch. Manche sagten, es rieche nach Rind, Schwein und Schwefel. Das mit dem Schwefel stimmte. Das hatte mit den Haaren zu tun und dem Keratin, das sich darin befand. Alles in allem roch es wieder anders, unvergleichbar, unverwechselbar.
    Im Krematorium kam es allerdings zu keiner Geruchsbildung.
    Schweißperlen hingen an seiner Stirn. Der Geruch von damals, der von der verkohlten Leiche, das Gesicht der lieblichen Toten und der Duft, den sie verströmte, der grausame Engel, alles was er und Johann taten, das Sägen, Tragen und Verpacken und alles was sie in Zukunft noch tun würden, seine Kinder … zu viel.
    Er öffnete die letzte Tür, hielt sie auf und Johann schob die Bare an ihm vorüber. Lars folgte seinem Bruder und die Schwingtüre fiel quietschend zu, pendelte hin und her, nach innen und nach außen, bis sie sich endgültig schloss.
    Sie waren am
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