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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt
Autoren: Sam E. Maas
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Rocks, den er in wenigen Zügen leerte. Das Gespräch flaute ab. Letztlich reichte er ihr die Hand, wünschte ihr alles Gute, verabschiedete sich und verschwand aus ihrem Leben.
    Sie war alleine. Nicht weiter schlimm, traurig nur, dass sie sich nicht ins Koma trinken oder irgendwie anders betäuben konnte — im Gegensatz zu den Menschen, die nun immer ausgelassener feierten. Sie wurde zornig. Sie könnte jemanden quälen? Nein, wozu?
    Ob er wirklich Sinatras Hand geschüttelt hatte?
    Es war an der Zeit, den Tag zu beenden.
    Marie stieg in den Inclinator und fuhr nach oben zu ihrer Suite. Sie schlenderte den Gang hinunter, ihre Augen suchten auf dem kurzen Wegstück das Atrium ab. Der Obelisk, der Maya Tempel … sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Der Mann, Al, schoss ihr wieder durch den Kopf. Menschen berührten sie normalerweise nicht so, er war aber auch keiner von ihnen gewesen. Kein Bruder, nein, das hätte sie gemerkt. Er hatte zufällig Dinge gesagt, die zu ihrer Situation passten. Sie hatte nach Zeichen gesucht, wo keine waren.
    Marie war zu weit gegangen und hatte ihre Tür verpasst. „Wenn man unachtsam wird, entgleitet einem die Welt“, murmelte sie. Ach was, sie war ihr bereits entglitten. Am Tag, an dem sie sich den Doktor zum Gegner gemacht hatte, war ihr die Welt schon entglitten. Die Welt war nicht fair — der ehemalige Assistent hätte ein Lied darüber singen können. Sie grinste, er hatte wirklich gesungen. Weil er die Melodie nicht hatte halten können, hatte sie ihn bestraft. Die Stimme des Mannes schwirrte ihr durch den Kopf und Marie sang leise mit ihm mit. In ihrer Erinnerung wiederholte er seinen Fehler, traf den Ton nicht und sie strafte ihn erneut. Sie öffnete die Tür. Er hatte so gut geschmeckt. Das Badezimmerlicht brannte und die Tür stand offen. Sie blickte hinein, aber sah niemanden. Würde man sie heute schon in Rente schicken? Die Düsen des Whirlpools liefen, genauso wie der Fernseher. Sie kannte den Film, die Familie aus dem Film sang auch gerne — die Stimmen sterbender Menschen, so zuckersüß — es war der Klassiker Houseboat mit Cary Grant und Sophia Loren in den Hauptrollen.
    Sie schloss die Eingangstür. Vor dem Whirlpool lag ein weißer Bademantel. Caspar musste hier sein. Sie ging zum spärlich erhellten Schlafzimmer und lehnte sich am Türrahmen an. Er lag auf dem Bett, nackt. Sie griff zum Lichtschalter.
    „Nein“, bat er sie.
    „Alles OK?“
    „Nein.“
    „Was ist los?“
    „Fühl mich kacke.“
    „Anstrengend gewesen?“
    „Äh.“
    „Brauchst du was?“
    „Kommst du ins Bett?“
    Es kostete ihn kraft, die Frage zu stellen.
    „Ja. Wenn was ist, melde dich.“
    Es war keine sexuelle Frage gewesen. Er war kaputt, wollte nicht alleine sein. Marie zog sich aus und legte sich neben ihren Bruder, dessen Blick sich in der konturlosen Dunkelheit der Decke verirrt hatte. Es war die erste Nacht, in der er nicht in seiner Suite schlafen wollte. Komischer Kerl. Sie schloss die Augen und war weg.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, drehte sie sich zu ihm um und stellte überrascht fest, dass er immer noch ins Nichts blickte, nur das die Decke nun vom Tageslicht erhellt war.
    „Hast du das die ganze Zeit gemacht?“
    „Häh?“
    „An die Decke geguckt?“
    „Keine Ahnung“, quälte sich die Antwort hervor.
    „Willst du reden? Mich würde interessieren, was da abgegangen ist.“
    „Nein.“
    „Hmmm.“
    Sie stieg aus dem Bett, ging zum Whirlpool und tauchte ein ins brausende Wasser. Dort lag sie eine Weile lang, guckte durch das Fenster in den Himmel.
    Was war mit Caspar los?
    Marie lieh sich wieder den Pontiac aus, wollte zurück in die Wüste, dieses Mal zum Hoover Dam und anschließend zum schneebedeckten Mount Charleston. Als sie von ihrer Tour zurückkehrte lag ihr Bruder noch immer im Bett, hatte sich aber auf die Seite gerollt.
    „Soll ich dich wenden?“
    „Ehähh.“
    „Fernsehen?“
    „Mmm.“
    Sie fasste es als Ja auf und legte sich neben ihn. Das amerikanische Fernsehprogramm war überhaupt nicht schlechter als das Deutsche, aber auch nicht besser. Zumindest war es zur Abwechslung mal auf Englisch.

XXV
    Es klingelte an der Haustür, der Mann vom Lieferservice war eingetroffen. Marie öffnete ihm. Caspar lag auf der Couch im Wohnzimmer und starrte in den Fernseher. Er schaute sich nur normale Sendungen an, Nachrichten, Scripted Reality Shows, Filme, die Marie ihm empfahl beziehungsweise ungefragt einlegte, eben alles außer
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