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Stars & Stripes und Streifenhörnchen

Titel: Stars & Stripes und Streifenhörnchen
Autoren: Michael Streck
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Mon Chéri, Judy
Belgien, New York und Wohnungssuche
    Wir wollten immer weg. Wir wollten immer ins Ausland. Egal wohin. Albanien? Gutes Klima, wie man hört. Innere Mongolei? Gewiss spannend, kulinarisch vor allem. Alles hätten wir genommen, Lesotho, Burundi, sogar Belgien. Es wurde New York, im Zweifel doch interessanter als Belgien. Die Entscheidung fiel am 15. Juni 2001 und führte beim Mann und der Frau des Hauses zu mittelschweren Euphorie-Anfällen und zu einem schweren Gelage, sechs Flaschen Wein, gelallte Anrufe um Mitternacht, »ratet maaaaa, wo wir hinziehen??« Die meisten rieten, schlafgestört, »London?«
    Man konnte sie verstehen.
    Die Frau hat zwar einen deutschen Pass, aber ein englisches Herz. Sie wuchs in London auf, trinkt englischen Tee, spricht Englisch wie Engländer, was für ihren Beruf als Übersetzerin durchaus vorteilhaft ist, und mag sogar die einzigen beiden englischen Gerichte Fish 'n' Chips und Plum Pudding. In einer Phase des pubertären Widerstandes würgte sie sogar »Steak 'n kidney pie« runter, besseres Hundefutter, das auf der Insel, jenseits der Zivilisation, als Höhepunkt angelsächsischer Esskultur gilt. Die Frau ist wirklich hart im Nehmen. Man könnte auch sagen: Sie ist ein hoffnungsloser Fall. Alle zwei Jahre, bei Fußball-Welt- und Europameisterschaften, belastet ihre Anglo-Affinität den häuslichen Frieden, denn selbstverständlich hält sie zu England, was glücklicherweise den Engländern aber nie genutzt hat. Als Kind rief sie sogar bei der BBC an und beschwerte sich über deren kritische Königshaus-Berichterstattung, »ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt. Ich bin Deutsche, und wir haben nur einen langweiligen Bundespräsidenten.« Und als eben jener Bundespräsident schließlich nach London kam und die Kinder der deutschen Schule als Deutschland-Fähnchen wedelndes Klatschvieh vor Windsor Castle strammstehen mussten, wurde ihr prompt derart übel, dass die Lehrer sie vom Klatschen und Deutschland-Fähnchen-Wedeln befreiten. Mit dem Union Jack wäre ihr das nicht passiert.
    Man hat sich daran gewöhnt. Gewöhnen müssen. Sie betrachtet Amerika irgendwie immer noch als Kronkolonie. Wenn schon nicht Belgien oder England oder Mongolei, dann doch Amerika, Land ihrer geistigen Vorfahren gewissermaßen.
    So ist die Frau des Hauses.
    Der Mann des Hauses litt schon als Kind unter unheilbarem Fernweh. Wollte immer weg aus seiner kleinen Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Hörte samstags im Radio die Bundesliga-Konferenzschaltung und hatte ungefähr mit neun die Idee: Sportreporter, das wär's. Sportreporter fahren in exotische Länder wie Sachsen-Anhalt oder England oder Belgien. Sie sehen exotische Städte wie Kaiserslautem oder Kinshasa oder Ulan Bator. Sie treffen exotische Menschen wie Berti Vogts, Andreas Möller oder Georg Hackl. Sportreporter, dachte der Mann, sind unentwegt auf Reisen, und das ist auch gut so. Also wurde der Mann über den steinigen Umweg eines Kreisligafußball-Chronisten tatsächlich erst Sportreporter und irgendwann nur noch Reporter beim S tern . Er reiste viel in exotische Länder wie Sachsen-Anhalt, Belgien oder England, traf in der Sportphase exotische Menschen wie Berti Vogts und Andreas Möller und Georg Hackl und später als Reporter ohne Sport davor die Großfamilie Klutentreter auf einem Dauer-Campingplatz in Essen-Rellinghausen. Er sah exotische Städte wie Cloppenburg, Hamm-Uentrop und Herne II. Und dann, am 15. Juni 2001, kam der Ruf nach New York, und das war auch gut so.
    Die Töchter des Hauses sahen das anders, ganz anders. Die Entscheidung führte bei ihnen, damals sieben und neun, zu mittelschweren Heulkrämpfen, »und was machen Opa und Oma ohne uns?«, und schweren Vorwürfen, »wenn ihr uns wirklich lieb habt, bleiben wir hier!« Sie empfanden New York als Zumutung. Die jüngere wollte immer Ballett-Tänzerin werden, und Tänzerinnen wurden ihrer Meinung nach nur in Hamburg hergestellt. Die ältere wollte Tierärztin werden und hielt Hamburg für den idealen Ort für Tierärzte, weil es dort so viele Hunde gab und im Garten schon mal moribunde Tauben zwischenlandeten, um die sie sich rührend kümmerte, bis sie dahinschieden. Wir erklärten beiden, dass Tänzerinnen auch in New York gebraucht werden und Tierärzte sowieso, schon wegen der vielen moribunden Tauben in der Stadt. Wir ließen uns sogar dazu herab, vage Versprechungen über den Erwerb eines Haustieres zu machen, kein Hund, keine Katze, irgendwas Praktisches,
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