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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Michael Tsokos
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ZurEinführung: Was Sie erwartet
    Vor nicht allzu langer Zeit ergab eine psychologische Studie, dass Menschen instinktiv weniger lächeln, wenn sie wissen, dass ihr zufälliges Gegenüber ein Zahnarzt ist. Und zwar nicht, weil Frauen wie Männern bei dem Gedanken an frühere schmerzhafte Erlebnisse beim Zahnarzt das Lachen vergeht, sondern weil sie unbewusst versuchen, ihre Zähne zu verbergen – aus Angst, dem Zahnarzt würden mangelnde Zahnpflege oder Zahnfehlstellungen auffallen.
    Was würde wohl eine solche psychologische Studie darüber ergeben, wie sich Menschen verhalten, wenn sich ihr Gegenüber im Zug, an der Bushaltestelle oder auf einer Party als Rechtsmediziner entpuppt? Hätten sie Angst, dass wir Rechtsmediziner schon vom äußeren Anblick in ihnen lesen könnten wie in einem offenen Buch? Dass wir an der scheinbar intakten Körperoberfläche eine fortgeschrittene Arteriosklerose oder das allmähliche Verkalken der Herzkranzgefäße erkennen? Oder vielleicht können wir ja auch an ihren Augen Anzeichen für eine geschädigte Leber finden und damit ihrem übermäßigen Alkoholgenuss auf die Schliche kommen?
    Bisher gibt es keine Studie über das menschliche Verhalten im Angesicht eines Rechtsmediziners. Würde es sie geben, wäre das Ergebnis aber wahrscheinlich, dass derjenige, der sich unvermittelt einem Vertreter dieser Berufsgruppe gegenübersieht, den Drang verspürt, ihr oder ihm ein paar grundsätzliche Fragen zu stellen. Dass wir für den Rest der Bevölkerung eine recht exotische Spezies zu sein scheinen, zeigen allein die Fragen, die mir von Privatpersonen oder bei Interviews mit schöner Regelmäßigkeit gestellt werden: »Wie hält man das nur aus?« »Hat Ihre Berufswahl mit Lust an menschlichen Abgründen zu tun?« »Wie hat Ihr Beruf Ihre Sicht auf die Menschen und die Gesellschaft verändert?« »Glauben Sie trotz der furchtbaren Dinge, die Sie sehen, noch an Gott?«
    Was meine Berufswahl und die tägliche Beschäftigung mit dem Tod anbelangt, kann ich Ihnen versichern, dass ich als Rechtsmediziner das, was ich von der Gesellschaft sehe, und die vielen Facetten, in denen der Tod unsere Mitmenschen ereilt, nicht als abgründig empfinde. Ebenso wenig umgeben wir Rechtsmediziner uns mit den Schattenseiten des Lebens, um mit unserer eigenen Existenz klarzukommen. Ich übe diesen Beruf deshalb aus, weil ich mir schlicht keine faszinierendere Tätigkeit vorstellen kann, obwohl ich natürlich nicht weiß, wie ich mich als Internist oder Bauchchirurg fühlen würde. Und allen Kollegen, mit denen ich schon gearbeitet oder gesprochen habe, geht es genauso. Was uns antreibt, ist eine Mischung aus Neugier und dem Wunsch, durch die Aufdeckung der Todesursache einen wichtigen Beitrag zu leisten – sei es zur Aufklärung eines Verbrechens oder um Angehörigen die Ungewissheit zu nehmen.
    Trotzdem ist meine Arbeit manchmal ganz und gar kein Vergnügen. Am wenigsten dann, wenn die Unschuldigsten unter uns zu Opfern geworden sind. Jedes unglücklich aus einem Fenster zu Tode gestürzte Kind, jedes Kind, das seine Neugier am Wasser mit dem Tod durch Ertrinken bezahlt hat, weil kein Erwachsener sich in diesem Moment für dessen Beaufsichtigung verantwortlich fühlte, und erst recht jedes kindliche Opfer eines Gewaltverbrechens schlägt mir aufs Gemüt. Da wird es dann auch schon mal schwer, abends abzuschalten und sich mit Freude dem Privatleben zu widmen.
    Auch diesen Teil meiner Arbeit erspare ich Ihnen in diesem Buch nicht. In vier Kapiteln geht es um Fälle, in denen Kinder auf meinem Obduktionstisch lagen. Aber hier wie in allen anderen Kapiteln gilt: Auch wenn ich auf grausame Details zu sprechen kommen muss, damit Sie jeweils verstehen, was vorgefallen ist, sind Sie vor Blut- oder Schockeffekten aller Art in Sicherheit.
    Bereits im Schlusswort zu meinem ersten Buch Dem Tod auf der Spur habe ich betont, dass die beschriebenen Fälle nur insofern spektakulär sind, »als sie in zugespitzter Weise Phänomene unserer Gesellschaft beleuchten«. Das gilt auch wieder für die folgenden Kapitel. Da bei erzähle ich diesmal noch ausführlicher die Geschichte hinter den jeweiligen Fällen, wodurch der Kontext stärker beleuchtet wird. Und ich versuche Ihnen ein Bild davon zu vermitteln, wie die rechtsmedizinische Untersuchung in das Räderwerk der anderen Ermittlungen eingebettet ist. Unter anderem in einigen kürzeren Kapiteln, die an konkreten Beispielen zentrale und immer wiederkehrende Aspekte der
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