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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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würde für seine Missetaten vor dem allerhöchsten Gericht Rechenschaft ablegen müssen. Seit zwei Wochen träumte Sören nicht mehr von den schrecklichen Ereignissen in der Barmbecker Kate, die man inzwischen abgerissen hatte. Es gab also eigentlich nichts, was Sören die gute Laune hätte verderben können.
    Andresen blickte wie gebannt auf die vordere Gangway, die nur von den Passagieren der ersten Klasse genutzt wurde. Als habe er ein geheimes Zeichen erhalten, packte er Sören plötzlich am Ärmel und zog ihn mit sich. «Es ist so weit.» Zwei Wachleute der Hapag hielten ihnen den Weg frei.
    «Ich wollte einfach, dass Sie mit dabei sind», erklärte Andresen immer noch geheimnisvoll. «Ich denke, diesen Moment haben Sie sich verdient.»
    In dem Augenblick sah Sören, was Andresen gemeint hatte.
    Sie trug ein vornehmes Kostüm. Nicht ganz so extravagant wie in Horn, aber dennoch ganz die Gräfin. Andresen stellte sich ihr auf der Gangway in den Weg. In der Hand hielt sie einen kleinen Koffer. Die Augen unverändert geheimnisumwittert dunkel. Sehr dunkel. Zu dunkel, wie Sören inzwischen fand. Er lächelte Andresen zu.
    Der ließ sich seinen Triumph nicht anmerken, blieb förmlich. «Gräfin Michailova?», fragte er freundlich.
    «Gräfin Rischtschestova?», fragte Sören von der anderen Seite. Das wollte er sich nicht nehmen lassen.
    «Isolde Oechslin.» Diesmal sparte sich Andresen die Frage. «Ich verhafte Sie hiermit im Namen des Gesetzes.»
    Sie kniff die Lippen zusammen, sagte kein Wort. Dann schien sie eine Ohnmacht zu überkommen. Langsam sank sie in die Knie. Sören hielt ihren Körper, ohne etwas zu empfinden. Zwei Sicherheitsbeamte eilten zu Hilfe. Andresen öffnete den Koffer. Geldscheine wehten über die Reling der Gangway.
     
    «Eine Frage hätte ich noch», sagte Andresen, nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten und die Gräfin in polizeilichen Gewahrsam genommen war. «Ihr Brunckhorst, der hat doch den Bruch gemacht, habe ich recht?»
    Sören lächelte. Er zog ein Couvert aus dem Rock und reichte es Andresen. Es enthielt einen Wechsel über eintausend amerikanische Dollar. Den Brief, der ebenfalls in dem Couvert gesteckt hatte, zeigte er ihm nicht. Er war mit Schreibmaschine verfasst. Auf dem Briefkopf prangte ein stilisierter Tresor. Unterschrieben war der Brief von Rob Goldman, Chief-Adviser der Firma Howard-Tresore in New York. Über den Namen und das Wortspiel musste Sören immer noch grinsen. Handschriftlich hatte der Verfasser noch einige Zeilen unter den Brief gesetzt:
    Ich habe mit Howard gewettet, dass ich jeden seiner Schränke in einer Stunde aufmache. Nun fragen Sie sich, ob ich die Wette gewonnen habe? Ab sofort geben wir auf unsere Produkte
10
 Jahre Garantie gegen unsachgemäße Öffnung. A. B.
     
    «Was soll ich damit?», fragte Andresen und deutete auf den Wechsel.
    Sören zuckte mit den Schultern. «Sehen Sie es als Entschädigung für einen verlorenen Wetteinsatz.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Epilog
    Hamburg im Frühsommer 1910. Der für den 18. Mai angekündigte Halley’sche Komet lässt sich nicht blicken. Der Himmel ist voller Wolken. Unwetter toben nicht nur über der Hansestadt, sondern in ganz Deutschland. Die Keller laufen voll, genau wie die Baugruben der Ringbahn, des ehrgeizigsten städtebaulichen Projekts dieser Jahre. Auch die neu aufgeschütteten Bahndämme werden unterspült und sacken teilweise ab. Aber nirgendwo findet man kopflose Frauenleichen. Die haben sich erst hundert Jahre später in die Geschichte geschummelt …
    Genauso wenig gab es zu jener Zeit ein Bankhaus Goldmann & Cie. in der Stadt, und der Berufszweig der Schränker und Panzerknacker arbeitete noch nach der
kalten
Methode
. Schneidbrenner wurden zwar schon für den Zuschnitt der Stahlplatten auf der Werft von Blohm & Voss verwendet, aber erst die Gebrüder Sass öffneten in den 1920er Jahren in Berlin Tresore mit der
warmen
Methode
. Der Ehrenganove Armin Brunckhorst ist also meiner Phantasie entsprungen, genau wie Adolf Künkel alias Pjotr Kaminsky alias Piet van Seenus, und ebenfalls seine Partnerin Gräfin Rischtschestova alias Isolde Oechslin.
    Zwielichtige Gestalten und erbärmliche Absteigen auf dem Hamburger Kiez gibt es auch heute noch, aber 1910 gab es weder eine Spelunke mit Namen Hertha & Claus noch einen Silbersack, keinen Heiner Petersen und keinen Wirt mit Namen Doschewski. Ob Bankhäuser zu dieser Zeit schon in den Handel mit Risikopapieren involviert
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