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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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erst zum Renntag am 6. Juni 1910 die Anlage, und das Große Hamburger Handicap am Horner Moor fand in Wirklichkeit am 24. Juni 1910 statt.
    Die emanzipierte Frauenrechtlerin Frieda Radel (1869–1958), in meinem Roman die Freundin von Mathilda Bischop, hat es ebenfalls tatsächlich gegeben. Radel arbeitete als Journalistin beim «Hamburger Fremdenblatt» und war für die Beilage der «Frauenrundschau» verantwortlich. Sie gehörte dem radikalen Flügel der Hamburger Frauenbewegung an, wurde 1909 Chefredakteurin der «Hamburger Hausfrau» (Hamburger Frauenzeitung), dem Zentralorgan der Hamburger Frauenvereine, und war von 1919–1927 für die DDP Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft.
    Rudolf Steiner (1861–1925) hielt für die Theosophische Gesellschaft, Pythagoras-Zweig Hamburg, im Mai 1910 tatsächlich einen Vortrag im Loogensaal an der Welckerstraße zum Thema «Erkenntnis und Unsterblichkeit». Ob Frieda Radel dort anwesend war, wage ich zu bezweifeln. Ebenso entzieht es sich meiner Kenntnis, worüber er im Anschluss mit Mathilda Bischop gesprochen haben könnte.
    Auch wenn es niemals einen Maler mit Namen Ludwig Lippstedt oder einen Bildhauer namens Otto Frischmuth gegeben hat, die ich ebenso wie ihre Modelle, Gerda Strack und Heidi Sello, frei erfunden habe, so waren Künstlerzirkel und ähnliche Treffen der intellektuellen Avantgarde in jenen Jahren weit verbreitet. Tatsächlich entwickelte sich genau zu dem Zeitpunkt, wo Hamburg in den städtebaulichen Wettbewerb mit anderen europäischen Metropolen trat, allen Ortes auch eine großstadtfeindliche Gegenkultur, eine Reformkultur, aus der Gartenstädte, Schrebergärten und der Wille zur Stadtflucht hervorgingen. Neben lebensreformerischen Ansätzen, der Postulierung vegetarischer Ernährung oder der völligen Ablehnung von Alkohol als Genussmittel war es aus gesellschaftlicher Sicht vor allem die aufkeimende Nacktkultur, die gegenüber der allgemeinen bürgerlichen Prüderie als skandalös betrachtet wurde; man empfand damals schon einen harmlosen Roman wie Marcel Prévosts (1862–1941) «Cousine Laura» als obszön und anrüchig. Vor allem an abgelegenen Orten entstanden Vereine, in denen man, hermetisch abgeschirmt, die Freikörperkultur zelebrierte. Ob es auch im Duvenstedter Brook eine solche Anlage gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hieß der betreibende Verein dann sicher nicht Sonnenanbeter Lebensreform e.V.
    Mit den Personen, die uns dort in diesem Roman begegnen, verhält es sich teilweise anders. Es gab zwar kein Faktotum mit Namen Ortmanus, und auch Jens Amman, das Ehepaar Schuldwasser, Mauro Bizini sowie Henrike Sollmann und Werner Holst sind meiner Phantasie entsprungen, aber die Einrichtungen, aus denen sie den Weg nach Duvenstedt gefunden haben wollen, waren durchaus existent. Sowohl die sektenartigen Gruppierungen um Guido List (1848–1919), die Mazdaznan-Lehre des Zar Otoman Ha’nish (Otto Hanisch 1844–1936), den Freiluftpark Klingberg bei Scharbeutz oder das Nudistenzentrum auf dem Monte Verità hat es tatsächlich gegeben. Auch die Person der Anna Schwab ist nicht erfunden. Sie war die Verlobte des auf Kabakon verstorbenen August Bethmann, dessen Tod niemals richtig aufgeklärt werden konnte. Bethmann war einer der ersten Gefolgsleute von August Engelhardt (1875–1919), der in Deutsch-Neuguinea 1902 eine Kokosnussplantage erwarb und die religiöse Gemeinschaft Sonnenorden gründete. Seine eigentümliche Philosophie des Kokovorismus, der ausschließlichen Ernährung durch Kokosnüsse, trieb viele Anhänger, die seinem Ruf nach Kabakon folgten, in den Tod. Der Bericht des Kolonialarztes Dr. Wendland, der Engelhardt Geistesgestörtheit unterstellt, ist überliefert. Die Person Arno Oechslin ist eine Phantasiegestalt, seine Geschichte ist einer der namenlosen Gefolgsleute von Engelhardt entliehen, die entweder auf rätselhafte Weise ums Leben kamen oder nach kurzer Zeit fluchtartig zurück in Richtung Europa aufbrachen. So auch Anna Schwab, die sich nach Bethmanns Tod in der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità bei Ascona niederließ. Die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan (1877–1927) hielt sich dort ebenfalls für kurze Zeit auf, bevor sie 1904 mit ihrer Schwester Elizabeth (1871–1948) in Berlin-Grunewald eine Tanzschule gründete.
    Esperanto ist eine künstliche internationale Plansprache, die bereits 1887 von Ludwik Lejzer Zamenhof in Warschau entwickelt wurde. Bis zur Jahrhundertwende fand sie nur wenig
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