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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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Schrei die Stille. Der Kopf im Halbdunkel ruhte auf keiner Stange, er gehörte zu Oechslin, der auf sie losstürmte. Sören konnte erkennen, dass Oechslin nackt war, in der Hand hielt er eine martialisch anmutende Machete. Sören war wie gelähmt. Schreiend stürzte ihnen der Hüne entgegen. Ein Schuss krachte, aber der Riese ließ sich nicht aufhalten. Taumelnd bewegte sich die Gestalt weiter auf sie zu, immer noch die Machete in der Hand, wild fuchtelnd. Noch ein Schuss. Sören sah das Mündungsfeuer von Andresens Waffe, aber Oechslin schien nicht aufzuhalten zu sein. Erst als Andresen die ganze Trommel seines Revolvers abgefeuert hatte, brach Oechslin zusammen und sackte vor ihnen auf den Boden.
    «Und jetzt raus hier», hörte er Andresen sagen. In seinen Ohren hallten immer noch die Schüsse nach. Als sie das Tageslicht erblickten, merkte Sören, wie er am ganzen Körper zitterte.

[zur Inhaltsübersicht]
    Einige Wochen später
     
    «Was wollten Sie mir denn nun zeigen?», fragte Sören, nachdem sie bereits längere Zeit an den Landungsbrücken standen. Andresen hatte ihn mit geheimnisvoller Miene in der Kanzlei abgeholt, und auch während der gemeinsamen Fahrt hatte er nicht verraten, worum es ging.
    Er reichte Sören eine schmale Mappe, die mehrere Papiere enthielt. «Das erreichte mich gestern aus Berlin. Teil zwei der Geschichte von Arno Oechslin. Es erklärt so einiges …»
    Sören überflog die Zeilen, die sich wie eine Fortsetzung des medizinischen Berichts von Dr. Wendland lasen. Stempel und Briefkopf bestätigten diese Vermutung. Andresen hatte alle relevanten Stellen bereits unterstrichen. Von der Kokosnussplantage des verrückten August Engelhardt waren Oechslin und seine Frau auf ein kleines Eiland namens Mipanana an der Nordost-Küste von Neupommern weitergezogen. Dort kam es zum Drama. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft und dem Bau einer Hütte am Strand wurde Oechslins Frau von Einheimischen auf bestialische Weise getötet. Wie für die Angehörigen des Stammes der Korowai üblich, wurde der Kopf der Verspeisten als Trophäe an Ort und Stelle aufgespießt und zur Schau gestellt. Sören stockte der Atem. Er las die letzten Zeilen des Berichts, wonach Oechslin eine Betreuung im Spital von Herbertshöhe abgelehnt und angeblich die sofortige Heimfahrt nach Deutschland in Angriff genommen hatte. Seine Spur verlor sich in den Häfen von Neupommern.
    «Das ist es also. Er muss durchgedreht sein. Ein Wahnsinniger.» Vor wenigen Wochen hatten sie bei Davids Empfang noch Scherze über Menschenfresser und Kannibalen gemacht, und nun hatte sie die Realität eingeholt.
    «Aber was machen wir jetzt
hier
?» An Brücke 1 lag, wie fast an jedem zweiten Tag, einer der riesigen Übersee-Schnelldampfer der Hapag. Nichts Besonderes bis auf den Umstand, dass die Schiffe von Jahr zu Jahr größer und luxuriöser wurden.
    «Es kann sich nur noch um Minuten handeln», versicherte Andresen. Er blickte zur Uhr. «Die Abfahrtszeit ist in genau elf Minuten.»
    Auf dem Ponton vor dem Schiff hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden. Auch das war nichts Besonderes. Taschentücher wurden geschwenkt, vom Heck des Dampfers kam die stille Antwort durch gleichfarbige Tücher. Ein Ritual, das sich seit hundert Jahren nicht verändert hatte. Egal, worauf sie hier warteten, es konnte Sören den Tag nicht vermiesen. Gestern hatte ihm David offenbart, dass er und Liane in einem Monat heiraten würden. Auf die Frage, ob es einen Grund für diesen Sinneswandel gebe, hatte David nur gegrinst. Mathilda hatte letzte Woche ein Grundstück gefunden, das nah genug an einer zukünftigen Haltestelle der Vorortbahn lag, aber dennoch weit vor den Toren der Stadt. David konnte mit der Realisierung des Entwurfs für ihr neues Domizil beginnen, wenn er denn in seiner neuen Anstellung bei Herrn Professor Schumacher noch Zeit dafür finden würde. Ilka hatte sich um die Aufnahme in der privaten Tanzschule von Elizabeth Duncan beworben, und Robert hatte seine Windpocken ohne nennenswerte Zwischenfälle gut überstanden. Von Heibu war er im Namen des Senats wegen seiner erfolgreichen Arbeit für die Kommission als Ehrenbürger der Stadt ausgezeichnet worden, nachdem Pjotr Kaminsky auf Antrag an die Berliner Gerichtsbarkeit überstellt worden war, da sein dortiges Strafregister deutlich länger war als in der Hansestadt. Aaron Goldmann hatte inzwischen ein Geständnis abgelegt, und Arno Oechslin, dessen Herz von fünf Kugeln zerfetzt worden war,
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