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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch
Autoren: Amanda Stevens
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einen Shrimps-Eintopf.« Er hob die Rechen vom Boden auf und legte sie sich über die Schulter.
    »Mit Maisgrütze?«, fragte ich, auch wenn meine Stimme kaum mehr war als ein Flüstern.
    »Das nehme ich an. Komm. Wir nehmen die Abkürzung über den alten Friedhof. Ich will dir ein paar Grabsteine zeigen, die ich restauriert habe. Ich weiß doch, wie sehr du die Engel liebst.«
    Er nahm meine Hand, drückte beruhigend meine Finger, und so machten wir uns auf den Weg über den Friedhof, wobei der Geist dicht hinter uns blieb. Als wir zum alten Teil des Friedhofs kamen, hatte Papa den Schlüssel schon aus der Jackentasche gezogen. Er drehte ihn im Schloss, die gut geölten Scharniere bewegten sich lautlos, und das schwere Eisentor schwang auf. Wir gingen hindurch, betraten diesen im Dämmerlicht liegenden geheiligten Ort, und mit einem Mal verspürte ich keine Angst mehr. Ich fasste wieder Mut und wurde kühn. Ich tat so, als würde ich stolpern, und als ich mich bückte, um meine Schnürsenkel neu zu binden, warf ich einen Blick zurück zum Tor. Gleich davor schwebte der Geist in der Luft. Es war offensichtlich, dass er nicht in der Lage war einzutreten, und ichkonnte nicht anders und bedachte ihn mit einem kindischen Grinsen.
    Als ich mich wieder aufrichtete, blitzte Papa wütend auf mich herunter. »Regel Nummer vier«, sagte er mit strenger Stimme. »Fordere nie das Schicksal heraus, niemals.«
    Diese Erinnerung an meine Kindheit verflüchtigte sich, als die Kellnerin kam, um mir meine Vorspeise zu bringen   – Grüne Tomatensuppe, eine Spezialität des Hauses, wie man mir gesagt hatte   – und den Pekannusskuchen, den ich als Nachtisch bestellt hatte. Schon vor einem halben Jahr war ich von Columbia nach Charleston gezogen, meine neue Heimat, aber bis jetzt hatte ich noch nie in einem der hochpreisigen Restaurants am Wasser zu Abend gegessen. Normalerweise erlaubte mir mein Budget kein exklusives Dinner, aber heute war ein ganz besonderer Abend.
    Als die Kellnerin mir Champagner nachschenkte, fiel mir auf, dass sie mich neugierig von der Seite beäugte, doch ich ließ mich davon nicht beirren. Nur weil es sich so ergeben hatte, dass ich allein war, brauchte ich mir noch lange nicht das Feiern zu verkneifen.
    Vor dem Essen hatte ich einen gemächlichen Spaziergang entlang der Battery unternommen und an der Spitze der Halbinsel haltgemacht, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Hinter mir war die ganze Stadt in purpurnes Rot getaucht, und vor mir zersplitterte der Himmel in Töne aus Rosa, Flieder und Gold wie in einem Kaleidoskop. Der Sonnenuntergang in Carolina berührte mich immer, aber mit Einbruch der Dämmerung war alles grau geworden. Dunst trieb vom Meer heran und legte sich auf die Baumwipfel wie ein silberner Baldachin. Als ich die hauchdünnen Schwaden jetzt von meinem Tisch am Fenster aus beobachtete, schwand mein Hochgefühl.
    Die Dämmerung ist eine gefährliche Zeit für Menschen wie mich. Eine Zeit zwischen den Zeiten, ebenso wie das Meeresuferund der Waldrand Orte zwischen den Orten sind. Die Kelten hatten einen Namen für diese Plätze   – caol’ait . Schmale Stellen, an denen die Grenze zwischen unserer Welt und der nächsten nur mehr aus einem hauchzarten Schleier besteht.
    Ich wandte den Blick vom Fenster ab, trank einen Schluck Champagner und beschloss, mir von der nunmehr eindringenden Geisterwelt meine Feierlaune nicht verderben zu lassen. Schließlich flatterte mir nicht jeden Tag ein unerwarteter Geldsegen ins Haus, und dann auch noch für etwas, wofür ich kaum einen Finger rühren musste.
    Im Allgemeinen besteht meine Tätigkeit aus vielen Stunden körperlicher Schwerstarbeit, die ziemlich schlecht bezahlt wird. Ich bin Friedhofsrestauratorin von Beruf. Ich reise durch alle Südstaaten, säubere die vergessenen und verlassenen Friedhöfe und restauriere verwitterte und zerbrochene Grabsteine. Es ist eine mühsame Arbeit, manchmal ein richtiger Knochenjob, und es kann Jahre dauern, bis man einen großen Friedhof ganz restauriert hat, sodass es in meinem Beruf keine spontanen Erfolgserlebnisse gibt. Aber ich liebe meine Arbeit. Wir Südstaatler haben Achtung vor unseren Ahnen, und mich befriedigt es, wenn ich im Kleinen dazu beitragen kann, dass die Menschen von heute diejenigen, die vor uns da waren, besser zu würdigen wissen.
    In meiner Freizeit betreibe ich einen Blog mit dem Titel Gräber schaufeln , auf dem Taphophile   – Friedhofsliebhaber   – und andere gleichgesinnte
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