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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch
Autoren: Amanda Stevens
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sind wie Parasiten, sie werden angezogen von unserer Lebensenergie, ernähren sich von unserer Körperwärme. Wenn sie wissen, dass du sie sehen kannst, werden sie sich an dich heften wie Pesthauch. Du wirst sie nie wieder los. Und dein Leben wird nie wieder dir gehören.«
    Ich weiß nicht, ob ich schon ganz verstand, was er mir dasagte, aber die Vorstellung, bis in alle Ewigkeit von Geistern verfolgt zu werden, machte mir Angst.
    »Nicht jeder kann sie sehen«, sprach er weiter. »Und die, die es können, müssen gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um sich zu schützen und die Menschen um sie herum. Das Erste und Allerwichtigste ist: Lass die Toten niemals wissen, dass du sie sehen kannst. Schau sie nicht an, sprich nicht mit ihnen, lass sie nicht spüren, dass du dich vor ihnen fürchtest. Nicht einmal, wenn sie dich anfassen.«
    Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. »Sie   … fassen einen an?«
    »Manchmal schon.«
    »Und das spürt man?«
    Er atmete tief durch. »Ja. Das spürt man.«
    Ich warf das Stöckchen weg und zog die Beine an, schlang die Arme fest um die Unterschenkel. Obwohl ich noch so klein war, gelang es mir irgendwie, nach außen hin ruhig zu bleiben, aber innerlich war ich ganz starr vor Entsetzen.
    »Das Zweite, was du nie vergessen darfst, ist das hier«, sagte Papa. »Entferne dich nie zu weit von geweihtem Boden. Es gibt auch noch andere Orte, wo du in Sicherheit sein wirst. Orte in der Natur. Nach einer Weile wirst du sie ganz instinktiv finden. Du wirst wissen, wo und wann du sie suchen musst.«
    Ich bemühte mich zwar, diese verwirrende Erklärung zu verdauen, verstand das Prinzip des geweihten Bodens aber nicht so recht, obwohl ich schon immer gewusst hatte, dass der alte Teil des Friedhofs ein besonderer Ort war.
    Eingebettet in die Flanke eines Hügels und beschützt von den ausgestreckten Armen der Virginia-Eichen, war Rosehill schattig und wunderschön, der ruhigste Ort, den ich mir vorstellen konnte. Der Friedhof war schon seit Jahren für die Öffentlichkeit geschlossen, und manchmal, wenn ich allein   – und oft einsam   – durch die üppigen Farnbeete und die langen Vorhängeaus silbrigem Moos streifte, tat ich so, als seien die zerbröckelnden Engel in Wahrheit Waldnymphen und Feen und ich ihre Herrin, Königin meines eigenen Friedhofsreiches.
    Die Stimme meines Vaters holte mich zurück in die Wirklichkeit.
    »Regel Nummer drei«, sagte er. »Halte dich fern von Menschen, die von Geistern heimgesucht sind. Wenn sie sich dir nähern, wende dich von ihnen ab, denn sie sind eine schreckliche Gefahr, und man kann ihnen nicht trauen.«
    »Gibt es noch mehr Regeln?«, fragte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.
    »Ja, aber darüber unterhalten wir uns ein andermal. Es ist schon spät. Wir machen uns besser auf den Heimweg, bevor deine Mutter sich Sorgen macht.«
    »Kann Mama sie sehen?«
    »Nein. Und du darfst ihr nicht erzählen, dass du es kannst.«
    »Warum nicht?«
    »Sie glaubt nicht an Geister. Sie würde denken, dass du dir das nur einbildest. Oder dass du irgendwelche Geschichten erfindest.«
    »Ich würde Mama niemals anlügen!«
    »Das weiß ich. Aber das hier muss unser Geheimnis bleiben. Wenn du größer bist, wirst du es verstehen. Im Moment halte dich unbedingt an die Regeln, und alles ist gut. Machst du das?«
    »Ja, Papa.« Aber selbst als ich ihm das versprach, musste ich gegen den Drang ankämpfen, über die Schulter zu schauen.
    Der Wind wurde heftiger, und die Eiseskälte in meinem Inneren breitete sich aus. Irgendwie schaffte ich es, mich nicht umzudrehen, aber ich wusste auch so, dass der Geist näher an uns herangewabert war. Papa wusste es ebenfalls. Ich konnte seine innere Anspannung spüren, als er murmelte: »Genug geredet. Halt dich einfach an das, was ich dir gesagt habe.«
    »Ja, Papa.«
    Der eisige Atem des Geists glitt über meinen Nacken, und ich fing an zu zittern. Ich konnte nichts dagegen tun.
    »Ist dir kalt?«, fragte mein Vater mit seiner ganz normalen Stimme. »Na ja, in dieser Jahreszeit. Der Sommer kann nicht ewig dauern.«
    Ich sagte nichts. Ich konnte nicht. Die Hände des Geists waren in meinem Haar. Er hob die goldenen Strähnen, die noch warm waren von der Sonne, und ließ sie durch die Finger gleiten.
    Papa stand auf und zog mich hoch. Einen Moment lang schoss der Geist davon, aber dann schwebte er wieder zurück.
    »Machen wir lieber, dass wir heimkommen. Deine Mutter macht uns heute Abend
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