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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch
Autoren: Amanda Stevens
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von der Schule weg war, bevor die Dämmerung anbrach, und das hieß, dass ich außerhalb der Unterrichtsstunden an keinerlei Aktivitäten teilnehmen konnte. Kein Ballsport, keine Partys, kein Abschlussball. Ich konnte es nicht riskieren, Miss Compton wiederzubegegnen. Ich hatte zu große Angst, sie könnte sich irgendwie an mich klammern, und dann hätte mein Leben nie wieder mir gehört.
    Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Geist im Restaurant. Ich erkannte ihn auch, nur kannte ich ihn nicht persönlich. Vor einigen Wochen hatte ich ein Foto von ihm auf der Titelseite der Post and Courier gesehen. Er hieß Lincoln McCoy, und er war ein bekannter Charlestoner Geschäftsmann gewesen, der eines Nachts seine Ehefrau und seine Kinder hingemetzelt und sich anschließend lieber eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte, als sich dem S.W.A.T .-Team zu ergeben, das sein Haus umstellt hatte.
    Die Gestalt, in der er mir jetzt erschien, wirkte ziemlich ätherisch, und nichts wies auf die grausamen Taten hin, die er an sich selbst und an seiner Familie begangen hatte. Bis auf seine Augen. Die loderten schwarz und waren zugleich so kalt wie Eis. Als er mich quer durch das Restaurant anstarrte, sah ich, wie sich ein schwaches Lächeln auf seine geisterhaften Züge legte.
    Statt zusammenzuzucken oder furchtsam den Blick abzuwenden, starrte ich geradewegs zurück. Er war hinter einem alten Ehepaar, das gerade darauf wartete, dass man ihnen einen Tisch zuwies, in das Restaurant geschwebt. Während er mir fest in die Augen blickte, tat ich so, als würde ich geradewegs durch ihn hindurchschauen, und dabei ging ich sogar so weit, dass ich einem angeblichen Bekannten zuwinkte.
    Der Geist drehte sich um, und genau in diesem Moment saheine Kellnerin, dass ich winkte, und hob einen Finger, um mir zu bedeuten, dass sie sich gleich um mich kümmern würde. Ich nickte, lächelte, nahm mein Champagnerglas in die Hand und drehte mich wieder zum Fenster hin. Ich sah den Geist nicht noch einmal an, aber ich spürte seine eisige Gegenwart einen Augenblick später, als er an meinem Tisch vorüberglitt, immer noch im Schlepptau des alten Ehepaars.
    Ich fragte mich, warum er sich ausgerechnet an diese beiden gehängt hatte und ob sie sich seiner wohl in irgendeiner Weise bewusst waren. Ich hätte sie gern gewarnt, aber das konnte ich nicht tun, ohne mich zu verraten. Und das war genau das, was er wollte. Wonach er sich verzweifelt verzehrte. Von den Lebenden zur Kenntnis genommen zu werden, damit er sich wieder als Teil unserer Welt fühlen konnte.
    Mit ruhiger Hand zahlte ich meine Rechnung und verließ das Restaurant, ohne mich noch einmal umzudrehen.
    Als ich draußen auf der Straße stand, erlaubte ich mir, mich zu entspannen, und spazierte langsam am Park White Point Gardens entlang, denn ich hatte es nicht übermäßig eilig, mich in mein Zuhause zu flüchten. Die Geister, denen es gelungen war, in der Dämmerung durch den Schleier zu schlüpfen, waren schon unter uns, und solange ich wachsam blieb, bis die Sonne wieder aufging, brauchte ich mich vor dem eisigen Lufthauch und wirbelnden grauen Gestalten nicht zu verstecken.
    Der Nebel war dichter geworden. Von der Promenade aus waren die Kanonen aus dem Bürgerkrieg und die Statuen im Park nicht mehr zu sehen, und vom Musikpavillon und den Virginia-Eichen waren nur mehr vage Umrisse zu erkennen. Aber ich konnte die Blumen riechen, diese köstliche Mischung aus Magnolien, Hyazinthen und Sternjasmin, die für mich inzwischen den Duft von Charleston ausmachte.
    Irgendwo in der Dunkelheit ertönte ein Nebelhorn, und draußen im Hafen schickte ein Leuchttum warnende Lichtsignalean die Frachtschiffe, die durch den schmalen Kanal zwischen Sullivan’s Island und Fort Sumter fuhren. Als ich stehen blieb, um die Warnlichter zu beobachten, kroch mir eine unbehagliche Kälte über den Körper. Hinter mir im Nebel war jemand. Ich konnte das Klacken von Ledersohlen auf dem Damm hören, leise, aber unverkennbar.
    Plötzlich hielten die Schritte inne, und mit einem atemlosen Schaudern wandte ich mich um. Eine ganze Weile geschah nichts, und ich dachte schon, dass ich mir das Geräusch vielleicht nur eingebildet hatte. Doch dann trat er plötzlich heraus aus dem Nebelschleier, und mir war, als würde mir das Herz stehen bleiben, so schmerzhaft zog es sich zusammen.
    Er war ganz in Schwarz gekleidet und groß und breitschultrig, so als wäre er geradewegs aus dem Traumland irgendeines
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