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Attentage

Attentage

Titel: Attentage
Autoren: W Bartl
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FREITAG, 9. MÄRZ, 16.30 UHR | ÄRMELKANALTUNNEL
    Es wird schlagartig dunkel im Abteil, als der Hochgeschwindigkeitszug kurz vor der Ärmelkanalküste in die Tunnelröhre rast. Als das Neonlicht im Waggon nach einer Schrecksekunde nervös aufflackert und das Abteil in grelles Licht taucht, blickt Hassan auf seine Digital-Armbanduhr. Er weiß, dass der Zug nun 23 Minuten unter dem Meer fährt, bevor er das französische Festland erreicht. Und er weiß auch, dass heute für ihn und über 200 Passagiere die Fahrt verkürzt sein wird.
    „Allah, der Allerbarmer und Barmherzige, wird dir in der Stunde deiner Bestimmung als Märtyrer besondere Kraft geben“, hatte ihm Yusuf heute früh in verschwörerischem Tonfall mit gedämpfter Stimme versichert, als sie sich in dem schäbigen Hotelzimmer notdürftig Gesicht, Hände und Füße gewaschen hatten. Diese rituelle Reinigung war für Hassan heute besonders wichtig, um für das Paradies bereit zu sein.
    Die fleckigen Vorhänge vor dem Fenster zum düsteren Innenhof des Hotels verbargen sie vor neugierigen Zufallsblicken. Die vergilbten Tapeten hatten den Alkoholdunst, das nuttige Parfüm und den Zigarettenrauch der letzten Jahre konserviert. Yusuf hatte ihm nicht gestattet, das Fenster in dem muffigen Zimmer zu öffnen, damit sie nicht bei ihrem Gebet, dem „Salat“, gehört wurden. „Einer, der den Koran nicht auf melodiöse Weise rezitiert, ist nicht einer von uns“, hatte Yusuf in der Moschee öfters in seinen Predigten den Propheten zitiert. Als sich ihre Stimmen vereinten, um denAllmächtigen zu loben, fühlte sich Hassan nach einer beinahe schlaflosen Nacht für seine Aufgabe gestärkt.
    „Dieses Gebet ist das vortrefflichste Reisegepäck in die Welt der Ewigkeit“, sagte Yusuf danach ergriffen. Hassan erschien sein Lehrer heute ungewohnt fahrig, als wolle er mit seinen mutmachenden Worten die eigene Unsicherheit übertünchen, und er fühlte sich ihm trotz seiner Jugend erstmals überlegen. Durch seine Heldentat würde er in der Ewigkeit weit über ihm stehen.
    Der lange Bart des Imam und die buschigen Augenbrauen in seinem hageren Gesicht wirkten auf Hassan heute widerspenstiger als sonst. Hassan sah ihn diesen Morgen erstmals in westlicher Kleidung statt im bestickten Kaftan mit weiten Hosen darunter. Yusuf steckte in einem billigen braunen Anzug und trug ein gelblich-weißes Hemd. Sogar die randlose weiße Kappe eines Imam hatte er an diesem Morgen vorsichtshalber nicht auf. Hassan fand das übertrieben und stellte stolz fest, wie stark hingegen sein Glaube war.
    „Knock- knock- knockin’ on heaven’s door …“ Die Musikberieselung in dem Großraumwaggon erschwert es Hassan, sich auf seine Mission zu konzentrieren. In zwölf Minuten muss er die Bombe zünden. Der Zug befindet sich dann 40 Meter tief unter dem Meer. Hassan hat schon vor neun Wochen Sitz 31 in der Mitte des ersten Waggons reserviert. Dort erzielt die Detonation nach Yusufs Berechnungen die maximale Wirkung. „So Allah das bestimmt hat, wird es keine Überlebenden geben“, denkt Hassan und fühlt sich bei diesem Gedanken leicht und frei.
    Unangenehmerweise sitzen neben ihm und auf den Sitzen gegenüber Mädchen in kurzen Röcken, die sichverführerisch in ihren Sitzen räkeln. Ihr Interesse gilt vor allem den Burschen auf den Sitzen an der gegenüberliegenden Seite, die beim immer intensiveren Wortgeplänkel von Zeit zu Zeit unverhohlen auf die Brüste der jungen Französinnen, die luftige Blusen tragen, starren.
    Hassan schließt die Augen, doch die Bilder der nackten Oberschenkel und der Rundungen in den Ausschnitten haben sich in seiner Vorstellung festgesaugt. Diese Teufel wollen mich unrein vor Allah treten lassen. Das frivole Kichern der Mädchen irritiert ihn und er empfindet es als einen Angriff auf seinen starken Glauben.
    Als Hassan die Augen wieder öffnet, erstarrt er. Eine pausbäckige Französin mit kurzen schwarzen Haaren und dunkelrot geschminkten Lippen lächelt ihn an. Hassan wendet seinen Blick abrupt ab. Er merkt, wie ihm die Hitze in den Kopf steigt, und beginnt sich fiebrig zu fühlen. Schlampe. Er hört, wie das Mädchen mit ihren Freundinnen tuschelt. Hassan ahnt, dass sich diese Teenager über seine vermutete Schüchternheit amüsieren. Es ist ein kühler Tag und diese Weibsdämonen tragen trotzdem aufreizend kurze Röcke und schwarze Nylonstrümpfe, die sie noch begehrenswerter erscheinen lassen.
    Yusuf hatte darauf bestanden, dass er ein violettes Shirt und eine
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