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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht
Autoren: Marcia Muller
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werden.« Hank nahm
seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Es gibt Augenblicke, in denen ich
meine Arbeit hasse, und dies ist so einer.« Dann stand er abrupt auf und setzte
die Brille wieder auf. »Komm, laß uns hier für eine Weile verschwinden und
etwas zu Mittag essen. Wir müssen die Spinnweben abschütteln.«
    Ich folgte ihm zur Haustür, schälte
mich aus Hilderlys großem Pullover und griff nach Jacke und Tasche. Auf der
Straße glich ich meinen Gang Hanks langen Schritten an. Er steckte den Kopf
zwischen die Schultern und die Hände in die Taschen und marschierte,
offensichtlich in Gedanken versunken, dahin. Ich steuerte ihn in Richtung
Clement Street. Ich hatte dort ein Dim Sum -Restaurant mit dem
schönen Namen Fook entdeckt, und die Vorstellung von Dampfklößen und mit
Schweinefleisch gefüllten Teigtaschen war sehr verlockend.
    Als wir in die Clement Street einbogen,
lichtete sich der Nebel, und es war wieder ein Phänomen zu sehen, das mich
schon immer interessiert hatte: die Grenze zwischen dem blauen und dem grauen
Himmel verlief genau in der Mitte über dem Arguello Boulevard und teilte die
Stadt von Norden nach Süden. Im Westen, wo die Straßen sanft zum Meer hin
abfielen, würde der Himmel bedeckt bleiben; im Osten, in so unterschiedlichen
Stadtteilen wie North Beach, der Stadtmitte, Noe Valley, Hunters Point und dem
kleinen Stadtviertel nahe dem Glen Park, wo ich wohnte, würde es ein sonniger
Tag werden. Fremden will dieses Phänomen, das typisch ist für San Francisco,
nicht so ganz eingehen. Einer meiner New Yorker Freunde formulierte es
folgendermaßen: »Es muß schon eine sehr eigenartige Stadt sein, in der die
Leute nur in ein anderes Stadtviertel ziehen, wenn sie schöneres Wetter haben
wollen.«
    Da Hank gar nicht wahrzunehmen schien,
wohin wir gingen, lenkte ich unsere Schritte in das Restaurant. Es war laut und
voll, aber wir wurden schnell zu einem Tisch an der Wand gebracht. Er blinzelte
und schaute sich um wie ein Schlafwandler, den man brutal aus seinen Träumen
gerissen hatte. Ich bestellte Jasmintee. An den umliegenden Tischen, die rund
waren, mit einem drehbaren Tablett in der Mitte, saßen hauptsächlich asiatische
Familien; Kellner schoben ihre mit Spezialitäten beladenen Edelstahlwagen
langsam von Tisch zu Tisch und priesen auf Chinesisch ihre Waren an. Als der
erste Wagen zu unserem Tisch kam, deutete ich auf Teller mit gefüllten
Teigtaschen und gegrillten Rippchen. Hank wachte aus seiner Versunkenheit auf
und wählte Shrimps in Reisblättern.
    Ich nahm die Stäbchen in die Hand und
fragte: »Wird Hilderlys geschiedene Frau sich aufregen, wenn sie erfährt, daß
die Kinder nichts erben?«
    »Schwer zu sagen.«
    »Wieviel ist der Nachlaß wert?«
    »Ziemlich viel. Perry erbte vor etwa
sieben oder acht Jahren ungefähr eine Viertelmillion Dollar. Von Zeit zu Zeit
erwähnte er mir gegenüber Investitionen — hauptsächlich sichere Anlagen wie
Kommunalobligationen, Schatzanweisungen, Standardwerte. Ab und zu spekulierte
er aber auch mit Risikoaktien wie Genentech. Ich würde sagen, er hatte
mindestens eine Million.«
    »Er lebte nicht gerade wie ein
Millionär.«
    »Perry lag nichts am Geld. Die
Investitionen waren ein Spiel für ihn, ein Kräftemessen mit dem Markt. Wenn er
einen Gewinn erzielte, so freute ihn das, weil er den Jungs dann mehr Geld
hinterlassen konnte. Für ihn selbst bedeutete Geld nichts, und er verbrauchte
nur sehr wenig.«
    »Und die vier Leute in seinem
Testament? Was bedeuteten sie ihm? Ihretwillen enterbte er seine
Kinder.«
    »Wenn ich das nur wüßte! Er hat mir gegenüber
niemals einen von ihnen erwähnt. Von zweien wußte er selbst nicht, wie sie zu
erreichen sind.«
    »Du sagst, Thomas Grant ist
Rechtsanwalt?«
    Hank nickte und biß in die Teighülle
eines seiner Shrimps. Er schluckte und sagte dann: »Ein richtiger Widerling.
Etwa fünfzig würde ich sagen. Er tauchte hier Mitte der siebziger Jahre auf und
konzentrierte sich auf Ehescheidungen — seine Mandanten sind nur Männer, und er
vertritt einen sehr aggressiven Standpunkt, nach dem Motto ›zum Teufel mit Frau
und Kindern‹. Er berät seine Mandanten, wie sie die gesetzliche
Gütergemeinschaft umgehen können, und das nicht immer auf die legale Art.«
    »Scheint ein schönes Herzchen zu sein.«
    »Skrupel oder menschliche Gefühle sind
ihm ziemlich fremd. Grant hat eine Einstellung, die leider zeitgemäß ist,
ausgenutzt — eine Art Gegenbewegung zu den emanzipatorischen
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