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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht
Autoren: Marcia Muller
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um einen
Gefallen gebeten: Ich sollte ihm helfen, die Wohnung eines Klienten
auszuräumen, der das vierte Opfer eines unbekannten Heckenschützen geworden
war. Nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung an einem Samstag, aber ich hatte
zugesagt, weil ich wußte, daß Hank — einem meiner ältesten und engsten Freunde —
an meiner Anwesenheit lag. Und es gab auch einen erfreulichen Aspekt dabei: er
hatte mich mit der Aussicht auf ein Mittagessen bestochen; dieses Versprechen
und der Gedanke an Hanks angenehme Gesellschaft hatten mich überzeugt.
    Und angenehme Gesellschaft konnte ich
wirklich brauchen. Meine trübe Stimmung an diesem Morgen mochte zwar von dem
Nebel herrühren, aber den ganzen letzten Monat — ebenso wie die fünf davor — hatte
ich mich recht einsam und trostlos gefühlt. Ich mußte irgendwie aus diesem
seelischen Tief herauskommen.
    An der Tür klingelte es.
    Ein ungutes Gefühl beschlich mich, wie
immer, wenn die Türglocke oder das Telefon zu ungewöhnlicher Zeit läutet. Ich
stand auf, angelte nach meinem Bademantel und band den Gürtel fest, während ich
über den Flur ging. Ich schaute durch den Spion.
    Jim Addison, der Mann, mit dem ich bis
vor einem Monat zusammengewesen war, stand auf der Treppe — und er war
betrunken. Er war ganz offensichtlich betrunken, kurz nach sieben Uhr morgens.
    Ich öffnete die Tür und starrte ihn an.
Jim lehnte am Geländer, seine Augen blitzten listig, sein blondes Haar war
zerzaust, die Klamotten zerknittert, und er stank nach Zigarettenrauch.
    »Wir haben die ganze Nacht durch
improvisiert.« Jim war Klavierspieler und trat am Wochenende mit einer
Jazzgruppe in einem kleinen Klub in der Nähe vom Strand auf. »Kann ich
reinkommen?«
    Ich zögerte und überlegte, wie schnell
und unkompliziert ich ihn wieder loswerden könnte, und kam zu dem Schluß, daß
es wohl am besten sei, ihm seinen Willen zu lassen. (Ihn loswerden... ihm
seinen Willen lassen — was war aus unserer einst guten Beziehung bloß
geworden.)
    »Ein paar Minuten.« Ich ließ ihn ein
und führte ihn durch den Flur in die Küche, wo ich sofort die Kaffeemaschine in
Gang setzte. Er ging direkt zum Kühlschrank und schaute hinein.
    »Hast du Wein im Haus?«
    »Im Regal in der Tür steht eine halbe
Flasche Riesling.« Während ich mit einer Hand die Kaffeebohnen mahlte, griff ich
mit der anderen in den Schrank und reichte ihm ein Glas. Ich war daran gewöhnt,
daß Jims Tag erst zu Ende ging, wenn meiner begann, aber selten endete er mit
einem solchen Exzeß.
    Als der Kaffee anfing durchzulaufen,
drehte ich mich um und stellte fest, daß er mit dem leeren Weinglas in der Hand
dastand und die Stirn runzelte.
    »Du haßt mich, stimmt’s?« sagte er.
    Ich seufzte. »Natürlich nicht.« Er
hatte die gleiche Frage gestellt, als ich ihm sagte, daß ich ihn nicht mehr
sehen wollte. Und er stellte sie danach auch in allen seinen zahlreichen,
hartnäckigen Telefonanrufen. Meine Antwort entsprach der Wahrheit, wenngleich
ich es leid war, immer wieder das gleiche zu beteuern. Jim war ein netter Mann
mit Sinn für Humor, ein begabter und begeisterter Musiker, und ich mochte ihn
sehr. Deshalb hatte ich die Beziehung zu ihm auch abgebrochen. Es ist nicht
fair, jemanden, den man mag, zu benutzen, um einen anderen, den man zu lieben
glaubt, vergessen zu können.
    Er betrachtete mich einen Moment, dann
zuckten seine Lippen verächtlich. »Wie immer die Vernunft in Person.«
    »Was soll das...«
    »Du hast immer recht, du weißt immer,
was das Beste ist für mich, für dich und die ganze verdammte Welt!«
    »Das stimmt nicht.« Wenn ich so
vernünftig wäre, würde ich dann zulassen, daß ein Mann, von dem ich mehr als
sechs Monate lang nichts gehört habe, mir immer noch fehlt? Hätte ich mich dann
in diesen Mann überhaupt verliebt?
    Jim knallte das Weinglas mit solcher
Wucht auf den Tisch, daß es zerbrach. Mein Blick sprang zu den glitzernden
Scherben und dann zu seinem vor Wut verfärbten Gesicht. Es war das erste Mal,
daß ich ihn wütend sah.
    »Was muß ich denn noch sagen, um zu dir
durchzudringen?« wollte er wissen.
    »Das haben wir alles schon einmal
besprochen.«
    »Nein, da bin ich anderer Meinung. Noch
nicht!« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging den Flur hinunter; die
Haustür wurde geöffnet und fiel dann krachend hinter ihm ins Schloß.
    »Großartig«, sagte ich. »Einfach
großartig. Was kann denn heute sonst noch schiefgehen?«
    Ich atmete tief durch und lehnte mich
gegen die Anrichte;
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