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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht
Autoren: Marcia Muller
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an den Universitäten passierte, interessiert — wahrscheinlich weil ich
das weiße Schaf in einer Familie von lauter Rebellen war und meine Geschwister
und ihre Kommilitonen um den Mut beneidete, Autorität in Frage zu stellen. Ich
erinnere mich noch an Fernsehsendungen über die Unruhen auf dem Campus, bei
denen Hilderly die große Show abzog.
    »Du erinnerst dich an ihn?« fragte
Hank.
    »Ein bißchen.«
    »Das überrascht mich.«
    Ich setzte mich zu ihm an den
Küchentisch. »Warum?«
    »Du warst damals ja noch ein Kind.«
    Ich lächelte. Hank ist nur sechs Jahre
älter als ich, aber er hat mir gegenüber schon immer eine väterliche Rolle
herausgekehrt. Das liegt wohl mit daran, daß er damals, als wir uns in Berkeley
kennenlernten — Jahre, nachdem Hilderly von der Bildfläche verschwunden war — ,
schon ein lebenserfahrener Jurastudent war, hinter dem die Schrecken von
Vietnam lagen, und ich eine Studienanfängerin, die ihre härtesten Kämpfe in der
Sicherheitsabteilung eines Kaufhauses geführt hatte, wo ich arbeitete, bevor
ich mich zum Studium entschloß. Im Laufe der Jahre hat sich meine
Lebenserfahrung deutlich vermehrt, aber Hank glaubt immer noch, mich beschützen
und leiten zu müssen. Wir haben nie darüber gesprochen, aber ich weiß, daß er
an dieser Vaterrolle auch deshalb so hartnäckig festhält, weil unsere
Freundschaft nie durch romantische Bande gefährdet war. Und Hanks väterliche
Art trägt dazu bei, diesen Status quo zu erhalten.
    »Ich erinnere mich trotzdem an ihn«,
sagte ich, »obwohl er von den Medien nicht so herausgestellt wurde wie Mario
Savio.«
    »Marios Charisma hatten nur wenige.
Perry erinnerte mit seiner komischen Art ein wenig an Abbie Hoffman, aber Perry
war bei weitem nicht so unverschämt. Es gab viele weniger bedeutende Leuchten,
die sich damals im Rampenlicht der Öffentlichkeit sonnten.« Hank dachte mit
einem schiefen Lächeln an jene Zeit zurück.
    Ich wußte, was er dachte. Einer meiner
Freunde meinte einmal, daß kaum jemand aus der Protestbewegung der sechziger
Jahre noch ›die alten Ideale hochhielte‹; nur wenige waren so erfolgreich beim ›Marsch
durch die Institutionen‹, wie ihre Anhänger es erhofft hatten. Aber eine
Zeitlang war es Visionären wie Mario Savio gelungen, die Phantasie einer ganzen
Generation zu fesseln. Mario, der an einem Herbsttag im Jahre 1964 respektvoll
seine Schuhe auszog, bevor er auf ein Polizeiauto kletterte, das von etwa
dreitausend Studenten umzingelt war, die gegen die Verhaftung eines
Bürgerrechtlers auf dem Universitätscampus protestierten. Mario griff zu einem
Mikrophon und zog einzelne aus der Menge in einen spontanen dreißigstündigen
öffentlichen Dialog, der die Universität, die amerikanische Jugend, die ganze
Nation für immer veränderte. Nein, Perry Hilderly war kein Sicherheitsventil
für Mario Savios Heftigkeit, aber er hatte Humor in eine eigentlich humorlose
Bewegung gebracht und potentiell gefährliche Situationen durch seinen Witz
entschärft.
    Ich erinnerte mich, daß Hilderly Ende
der sechziger Jahre plötzlich von der Bildfläche in Berkeley verschwand. Als
ich mein Studium in Berkeley begann, waren auch die meisten seiner Mitstreiter
verschwunden. Ich habe einmal eine Reportage über ehemalige Aktivisten der ›Bewegung
für Redefreiheit gehört, die sich, enttäuscht durch den Mangel an greifbaren
Erfolgen, der militanten Weatherman-Gruppe angeschlossen hatten und in den
Untergrund gegangen waren. Hilderly war Wirtschaftsprüfer geworden, wie sich
jetzt herausstellte, und viele Jahre später am Geary Boulevard, zwei Ecken von
seiner Wohnung entfernt, anscheinend sinnlos erschossen worden.
    »Du hast doch in den Sechzigern in
Stanford studiert. Woher kennst du Hilderly eigentlich? Oder hast du ihn erst
später kennengelernt?« fragte ich Hank.
    »Ich bin ihm neunundsechzig in Vietnam
begegnet. Perry hatte die Universität verlassen müssen und arbeitete für eine
linke Zeitschrift. Er ging nach Vietnam im Auftrag der Zeitschrift, um über den
Krieg zu berichten, aber sie machten Pleite, kurz nachdem er dort angekommen
war. Als ich ihn kennenlernte, lebte er bei einer Familie in der Nähe von Cam
Ranh Bay. Er hatte mit einer der Töchter einen kleinen Sohn. Aber er sehnte
sich nach der Gesellschaft von Amerikanern und hing oft mit einigen von uns
Liberalen von der Militärbasis in einer der Bars herum. Wir haben über den
Krieg geredet und darüber, was zu Hause so passierte. Dann kamen seine Frau
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