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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht
Autoren: Marcia Muller
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sagen, ich könne in der Einfahrt
des Hauses an der Third Avenue parken — falls ich jemals dort ankommen sollte.
    Fünf Minuten brauchte ich, um die
Clement Street entlangzukriechen, dann bog ich an der Ecke auf die Third ab und
fand die Adresse, die Hank mir genannt hatte: eines jener Zweifamilienhäuser
mit Garage und einer illegalen Einliegerwohnung im Souterrain. Die Fassade im
nachgemachten viktorianischen Stil, minzegrün mit einer Verzierung in Lila und
Orange jagte selbst dem ästhetisch anspruchslosesten Zeitgenossen Schauer über
den Rücken. In der Einfahrt stand Hanks Honda und versperrte den Bürgersteig.
Ich sah mich um und stellte fest, daß die meisten Anwohner ihre Autos ähnlich
parkten. Außerdem war da noch ein ganz Erfinderischer, der seinen Wagen auf dem
Bürgersteigparallel zum Randstein abgestellt hatte. Zum Teufel mit den
Parkregeln, dachte ich, und parkte neben dem Honda.
    Als Hank die Tür zur Erdgeschoßwohnung
öffnete, war ich froh, daß ich versprochen hatte, ihm zu helfen. Er hatte
Kummerfalten um den Mund, und seine Augen blickten trübe, als er die Hornbrille
abnahm, um die dicken Gläser mit einem Zipfel seines braunen Cordsamthemds zu
putzen. Hank setzt sich für seine Mandanten so sehr ein, daß ihm oft die nötige
Distanz zu ihren Problemen fehlt. Nicht daß dies seine Tüchtigkeit
beeinträchtigte; es belastet ihn nur mehr, als ihm guttut.
    Ich lächelte ihm aufmunternd zu und
trat ein. Es war kalt in der Wohnung. Hank hatte wahrscheinlich die Heizung
nicht eingeschaltet, um das Geld der Erben zu sparen. Am Ende eines langen
Ganges stand eine Tür halb offen; ich sah einen Küchentisch und einen
Kühlschrank. Links von mir lag ein kleines Wohnzimmer mit einem Erkerfenster
zur Straße hinaus. Ich ging dort hinein, um meine Wildlederjacke auszuziehen.
Aber dann überlegte ich. Die Jacke würde vielleicht schmutzig werden, wenn ich
Kisten und Möbel wuchtete, aber ohne sie wäre mir sicher zu kalt.
    Hank schien meine Gedanken zu erraten.
»Ich habe Kaffee aufgesetzt«, sagte er, »und du kannst einen von Perrys
Pullovern anziehen.«
    »Danke.« Ich folgte ihm den Flur
hinunter in ein Schlafzimmer, das noch kleiner war als das Wohnzimmer. Er
wühlte in einem Kleiderhaufen, der auf dem Bett lag, und warf mir eine schwere
grüne Strickjacke mit einem Loch am Ellbogen und einem zerrissenen rechten
Ärmel zu. Sie reichte mir bis zu den Knien; ich krempelte die Ärmel bis zu den
Handgelenken hoch. Der verstorbene Perry Hilderly muß ein großer Mann gewesen
sein.
    Hank war schon in die Küche gegangen.
Als ich nachkam, hielt er mir einen Becher mit heißem Kaffee hin. Ich nahm ihn
entgegen und blickte durch eine Tür links von mir. Sie führte in ein Eßzimmer
mit einem Kamin und eingebauten Bleiglasschränken — die typische Ausstattung
für Wohnungen dieser Art und Bauzeit. Das Zimmer war nicht möbliert; nur ein
paar Kartons mit der Aufschrift BE KI NS standen herum.
    Ich warf Hank einen fragenden Blick zu.
    »Das sind die Sachen, die Perry nach
seiner Scheidung hierhergebracht hat«, erklärte er. »Er war nicht viel zu
Hause. Das ist bei Wirtschaftsprüfern wohl oft so.«
    Solche Verallgemeinerungen sind typisch
für Hank. Kühne Behauptungen, die auf keinen oder nur wenigen Tatsachen
gründen. Ich bin jedesmal wieder überrascht, vor allem in Anbetracht der
verschrobenen Käuze, die ihm Jahr für Jahr in der Kanzlei begegnen. Diese
Kategorisierung seiner Mitmenschen muß ein Relikt seiner Erziehung sein — seine
Mutter ist in ihren Urteilen über andere Menschen ziemlich unerbittlich. Aber
da solche Sätze nie wirklich sein Urteilsvermögen beeinflussen, übergehe ich
sie meist kommentarlos.
    Ich betrachtete das Farbfoto, das am
Kühlschrank mit einem Magneten befestigt war. Es zeigte einen großen,
schlaksigen Mann mit blonden Locken und altmodischer Brille; er trug ein
Giants-Sweatshirt und wurde von zwei ähnlich gekleideten blonden Jungen
flankiert, die ihm gerade bis zur Taille reichten. »Das ist Hilderly, oder?«
    »Hm. Das ist ein altes Foto; seine
Jungs sind inzwischen Teenager.«
    »Er sieht noch genauso aus wie auf dem
Bild von neunzehnhundertfünfundsechzig, das am Morgen nach seinem Tod im Chronicle war. Nur sein Haar war damals länger und wuscheliger.«
    Perry Hilderly hatte in den sechziger
Jahren zu den Gründern der Gruppe ›Free Speech Movement‹ an der Universität von
Berkeley gehört. Ich ging damals noch zur Schule, aber ich habe mich sehr für
das, was
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