Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
 
     
Meister im Haus der Ketten
     
    »Es war in meinem Haar, Severian«, sagte Dorcas. »Also stellte ich mich unter den Wasserfall im heißen Raum aus Stein. Und jedesmal, wenn ich wieder heraustrat, konnte ich hören, daß man über mich redete. Und dich nannte man den schwarzen Schlachter und andere Dinge, die ich nicht wiederholen möchte.«
    »Das ist ganz normal«, entgegnete ich. »Du bist bestimmt seit Monaten die erste Fremde, die diesen Ort betreten hat, also ist es nur zu erwarten, daß man über dich redet und daß die wenigen Frauen, die dich kennen, stolz ihre Geschichten erzählen. Was mich angeht, so bin ich daran gewöhnt, und du wirst auf dem Weg hierher gar oft solche Namen gehört haben; ich hab’ sie zu Ohren bekommen.«
    »Ja«, räumte sie ein und setzte sich auf das Fensterbrett der Laibung. In der Stadt darunter erfüllten die Lichter der dicht gedrängten Läden das Tal des Acis allmählich mit einem narzissengelben Schein, aber Dorcas schien nicht darauf zu achten.
    »Nun leuchtet dir ein, warum die Regeln der Zunft mir versagen, ein Weib zu nehmen – auch wenn ich sie deinetwegen mißachten werde, wie ich dir oft gesagt habe, wann immer du willst.«
    »Du meinst, es wäre besser, wenn ich irgendwo anders lebte und du mich ein- oder zweimal wöchentlich besuchtest oder ich wartete, bis du zu mir kämst.«
    »So wird’s für gewöhnlich gehandhabt. Und schließlich merken die Frauen, die heut’ über uns geredet haben, daß eines Tages sie selbst oder ihre Söhne oder Gatten sich unter meiner Hand wiederfinden mögen.«
    »Siehst du denn nicht, daß es darum gar nicht geht? Es ist …« – Dorcas verstummte, und nach längerem Schweigen erhob sie sich und schritt mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das hatte sie noch nie getan, und es beunruhigte mich.
    »Worum geht es dann?« fragte ich.
    »Daß es damals nicht gestimmt hat, jetzt aber schon.«
    »Ich praktizierte die Kunst, wann immer es Arbeit für mich gab. Verdingte mich an Städte und Landgerichte. Mehrmals sahst du von einem Fenster aus zu, obwohl du nie unter der Menge stehen wolltest – was ich dir kaum verübeln kann.«
    »Ich sah nicht zu. Nicht beim eigentlichen Akt. Du warst so eifrig mit deinem Werk beschäftigt, daß du nicht bemerktest, wenn ich hineinging oder mir die Augen bedeckte. Ich habe immer zugeschaut, wie du aufs Schafott gesprungen bist, und dir gewinkt. Du hast so stolz gewirkt und so gerade gestanden wie dein Schwert und ein so schönes Bild abgegeben. Du bist ehrlich gewesen. Ich erinnere mich, wie einmal neben dem Verurteilten und einem Hieromonachus irgendein Beamter mit oben gewesen ist. Dein Gesicht ist das einzige ehrliche gewesen.«
    »Das konntest du unmöglich gesehen haben. Gewiß hatte ich die Maske auf.«
    »Severian, ich brauchte es nicht zu sehen. Ich weiß, wie du aussiehst.«
    »Seh’ ich jetzt nicht genauso aus?«
    »Ja«, meinte sie schweren Herzens. »Aber ich bin unten gewesen. Ich hab’ sie gesehn, die Leute in Ketten in den Stollen. Wenn wir, du und ich, nachts in unserem weichen Bett liegen, schlafen wir direkt über ihnen. Wie viele sind’s, hast du gesagt, als du mich runtergeführt hast?«
    »Ungefähr sechzehnhundert. Glaubst du denn allen Ernstes, diese sechzehnhundert wären frei, wenn ich als ihr Wächter nicht mehr da wäre? Wohlgemerkt sind sie schon dagewesen, als wir gekommen sind.«
    Dorcas mied meinen Blick. »Wie ein Massengrab«, entgegnete sie. Ich bemerkte, daß ihre Schultern bebten.
    »Soll’s ja sein«, erklärte ich ihr. »Der Archon könnte sie auf freien Fuß setzen, aber wer könnte jene wiederauferstehen lassen, die sie umgebracht haben? Du hast noch nie jemand verloren, nicht wahr?«
    Sie gab keine Antwort.
    »Frag die Frauen und Mütter und Schwestern der Männer, die diese Gefangenen im Hochland unter die Erde gebracht haben, ob Abdiesus sie aus dem Kerker entlassen solle.«
    »Nur mich selbst«, sagte Dorcas und blies die Kerze aus.
    Thrax ist wie ein ins Herz der Berge eindringender Säbel. Es liegt in einem Engpaß des Acis-Tales und reicht hinauf bis zur Burg Acies. Die Arena, das Pantheon und die übrigen öffentlichen Bauten bedecken die ganze Ebene zwischen der Burg und der Mauer (›Capulus‹ genannt), welche das untere Ende des schmalen Tals abgrenzt. Die Privathäuser der Stadt bekleiden die Hänge zu beiden Seiten, und viele sind großzügig in den Fels gehauen, wovon Thrax einen seiner Beinamen ableitet – die Stadt der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher