Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
Vom Netzwerk:
Auf der ganzen Welt. Hübsch? Nein, sie war wunderschön. Seit ich sie das erste Mal auf dem Spielplatz gesehen hatte, im Klassenzimmer, im Esssaal, in der Aula, auf dem Heimweg ‒ seither war ich verloren. Warum begriff ich erst jetzt, wie schön sie war? Ganz langsam ‒ als wäre sie eine Katze, die sich einem ängstlichen Vogel nähert ‒ beugte sie sich vor und ... küsste mich, ganz zart, die Stirn vor inbrünstiger Sanftheit gerunzelt. Fast augenblicklich wandte sie sich wieder ab, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. »Spink«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Der olle Spink!«
    Die Stille klingelte mir in den Ohren. »Es hat aufgehört zu regnen«, sagte ich. Primavera stand auf, verließ den Sala und ging zum Bot hinüber. Ich rannte ihr nach. »Manchmal«, sagte ich, »manchmal mögen sie es nicht, wenn Frauen die Grenzsteine übertreten.«
    »Und wenn? Ich bin keine Frau.« Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und stieg die Tempeltreppe hinauf. »Keine Sorge, ich will nicht da rein.« Sie ging in dem Perlmutteingang in die Hocke. Am Ende des Mittelschiffs stand ein großer, vergoldeter Buddha, darunter ein Altar, der mit Girlanden geschmückt war. In Schalen schwelten Räucherstäbchen. An die Wände waren mythologische Szenen aus dem Ramakian gemalt.
    »Das ist hübsch«, sagte Primavera. »Und natürlich sind da Frauen! Du bist so ein Angsthase, Iggy.« Sie öffnete ganz leicht den Mund und fuhr sich mit der Zunge über die spitzen Zähne, eine anzügliche Zurschaustellung ihrer Gelüste. »Buddha hat gesagt, dass alles Leid seinen Ursprung in den Begierden hat. Jedenfalls hat Madame das so erzählt. Das Ende der Sehnsucht führt zum Ende des Leidens.«
    »Und des Lebens«, sagte ich, »und des Lebenswillens. So findet man Frieden.«
    Primavera knirschte mit den Zähnen. »Die Frevler sollen keinen Frieden finden, wie meine Mom immer gesagt hat.«
    »Ich bin froh, dass ich nicht an Wiedergeburt glaube.«
    »Und wenn doch? Als was würdest du dann zurückkehren?«
    »Als Puppe. Lilim.«
    »Das geschähe dir recht.«
    »Und du würdest als Junkie zurückkehren.«
    »Scheiße. Schlechtes Karma, wie man es dreht und wendet.« Ein Mönch erwachte aus seiner Meditation und warf uns einen vorwurfsvollen Blick zu. Primavera streckte ihm die Zunge heraus.
    »Lass uns von hier verschwinden«, sagte ich. »Wir sind Geschöpfe der Lust. Wir gehören nicht hierher.«
    Der Himmel hatte aufgeklart. Der Mond wandte uns sein launisches Sichelprofil zu und hieß uns in der Finsternis willkommen.
    »Madame?« Primavera presste das Gesicht gegen die dunkel getönte Scheibe des SiL.
    »Es ist nicht abgeschlossen«, sagte ich und suchte nach einem angemessen gehässigen Fluch; fand keinen und ließ es bleiben. Die Limousine war leer. »Wenn sie glaubt, dass wir auf sie warten ...«
    »Weit weg kann sie nicht sein.«
    »Und wenn schon ‒ sie hätte bleiben sollen, wo sie war!« Ich glitt auf den Fahrersitz.
    Ein lauter Knall.
    »Ach, verdammt, Iggy ...« Primavera warf sich mir über den Schoß und kletterte auf den Beifahrersitz. Dann sah sie hoch. Über ihre linke Wange verlief eine Brandspur, eine Wunde, halb verdeckt von sich kräuselndem, cartierschwarzem Haar. Meine Hände umklammerten das Lenkrad, meiner Brust entrang sich ein Schluchzen; ich musste unbedingt eine Frage stellen, eine alles entscheidende Frage. Fassungslos schaute ich zu, wie sich ein Rauchwölkchen von Primaveras Gesicht löste; wie lautete die Frage? Ich wusste, dass die Antwort alles wieder gutmachen würde. Aber um die Antwort zu erfahren, musste ich erst die Frage kennen ...
    Primavera drehte den Zündschlüssel.
    »Unter der Rückbank, Mr. ...« Es war Kito; ihre Stimme erstarb in einem Schrei. Paff, paff, paff; Laserstrahlen zischten durch die Luft.
    »Reiß dich zusammen, Iggy!«
    »Kito?«
    »Ist tot. Vielleicht hat sie ihren Laser ...«
    »Sie hat etwas gesagt, von wegen ...«
    »Bring uns einfach hier raus!« Ich trat aufs Gaspedal. »Das Heckfenster ist lichtundurchlässig. Fahr immer geradeaus.« Der linke Kotflügel streifte eine leerstehende Garküche. Eine Suppenschüssel rollte klappernd über die Straße. Das Radio ging an ( Oh doctor, doctor ... ) und wieder aus. Ich schaltete die Scheinwerfer an. »Nein«, schrie Primavera; ich schaltete sie wieder aus.
    »Dein Gesicht ...«
    »Die Wichser haben mich gelasert!«
    »Morgenstern«, rief ich. »Er will die Sache zu Ende bringen.«
    Ein roter Punkt tanzte über die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher