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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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Russland. Indien. Tibet ‒ genau, wie wäre es mit Tibet?«
    »Zu kalt. Und diese ganzen Berge ...« Sie strich sich nervös den Pony aus der Stirn. »Eigentlich ist es mir egal. Solange es nicht Europa ist ...«
    »Natürlich nicht.«
    »Na ja, du wolltest doch immer mal die Karpaten sehen.«
    »Ach, ich habe viele verrückte Ideen, wenn der Tag lang ist.« Ich ließ mich auf die klebrige Plastikbank zurücksinken und tat Eis in mein Singha. »Ich weiß, dass ich das schon mal gesagt habe, Primavera, aber es tut mir leid ‒ wirklich. Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Ich war einfach ... unzufrieden. Ich konnte das ganze Morden nicht mehr ertragen.«
    »Heuchler!«, sagte sie. »Schnösel!«
    »Gut, gut ‒ ich weiß. Aber deswegen sind wir doch überhaupt aus England fortgegangen. All die toten Mädchen! Das Blut! Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Und um erwachsen zu werden.«
    »Du und ich ‒ wir werden nie erwachsen sein, Iggy. Wir sind Nimmerländer.«
    »Ja«, sagte ich, »ich weiß.« Ich hob mein Bierglas und blickte in den bernsteinfarbenen Spiegel; Herrgott, sah ich alt aus! Mindestens achtzehn. Aber die Augen waren noch immer die Augen eines Kindes. Die Kellnerinnen schwebten an uns vorbei.
    »Wo sollen wir schon hin?«, fragte Primavera. »Ich meine, wir werden immer auf der Flucht sein. Und uns nach Verfolgern umschauen. Niemand mag uns ...«
    »Wenn wir weiter fliehen müssen, dann fliehen wir eben.« Ich nahm ihre Hand. »Ich werde dich nie wieder verlassen, Primavera. Und ich werde dich beschützen.«
    »Mistkerl«, sagte sie, schob meine Hand beiseite, fischte einen Eiswürfel aus meinem Bier und steckte ihn sich in den Mund. »Aber eigentlich ist es ja auch egal. Ich werde sowieso bald tot sein. Meine Matrix macht es nicht mehr lange.«
    »In China gibt es Gentechniker wie Sand am Meer«, entgegnete ich. »Wir werden einen finden, der dir helfen kann. Das verspreche ich dir.«
    »Dafür ist es zu spät, Iggy. Aber keine Sorge. Lilim gewöhnen sich sehr früh an den Gedanken, dass sie sterben müssen. ›Ephemera‹ hat Titania uns immer genannt. Wir leben hundertmal intensiver als die Menschen. Titania, diese schwanzlutschende Schlampe! Wir konnte ich ihr nur glauben? Lügen, nichts als Lügen! Irgendwann weiß man überhaupt nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Keiner von uns ist gerne eine Puppe, Iggy. Wir möchten alle echte Mädchen sein, ganz gleich, was wir sagen.«
    »Echte Mädchen«, sagte ich.
    »Genau. Hast du jemals Pinocchio gesehen?«
    Ich stand auf. »Komm«, sagte ich und streckte die Hand nach ihr aus. Primavera runzelte erst verständnislos die Stirn, lächelte dann aber.
    »Du bist ein Idiot, Iggy. Ein Trottel, wie er im Buche steht.« Sie nahm meine Hand, und ich führte sie auf die improvisierte Tanzfläche. Die Kellnerinnen warfen uns beifällige Blicke zu. Primavera legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich weiß eigentlich gar nicht, wie das geht.«
    »Ich auch nicht«, erwiderte ich und umfasste ihre Taille.
    »Wäre es nicht schön«, sagte sie, »normal zu sein?«
    »Wie die Medicine Heads? Wie die Klinik? Wie die Reinheitsfront?« Wir schritten unbeholfen zwischen den Tischen hindurch und wiegten uns sanft im Rhythmus aufgesetzter Melancholie.
    »Du bist ja fast normal, Menschenjunge.«
    »Ich bin ein Puppenjunkie. Ein Verräter meiner Rasse. Ein überzeugter Nympholeptiker. Und froh darüber.« Mein Absatz kam auf einem stahlharten Fuß zu stehen.
    »Ich wünschte, du hättest mich nicht gezwungen zu töten, Iggy.«
    »Ich hätte nie gedacht ...«
    »Nachdem ich erst mal auf den Geschmack ...«
    »Das spielt keine Rolle. Die Schuld liegt ganz bei mir. Und bei allen, die so sind wie ich. Wir haben euch zu dem gemacht, was ihr seid.«
    »Das ist nicht deine Schuld«, sagte sie. »England hat uns beide hervorgebracht. Wir sind von den Perversitäten der Insel programmiert. Manchmal scheinst du mir genauso sehr Maschine zu sein wie ich.«
    »England, nun ja ...«
    Primavera legte den Kopf an meine Schulter. »Aber wir haben eine Menge zusammen erlebt, nicht wahr? Davon träumen andere Leute nur. Wir hatten unseren Spaß! Das war es wert.«
    »Klar. Und zur Hölle mit England! Soll die Insel ruhig brennen.«
    »Ich bin es, die brennt, Iggy. Von innen heraus. Das weißt du doch, oder?« Ich strich über das Katzengold ihrer Haare. »Ich sterbe, Iggy. Nächsten Monat werde ich sechzehn. Eine alte Dame. Und dieser
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