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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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die stets so tut, als wäre sie unbeeindruckbar, als zeichne sie mit eisiger Genauigkeit die Resultate der Mordhurerei, des schreiendsten Unrechts, der schwärzesten Magie auf, nur um daraus schöne Figuren, betörend rätselhafte Wandbilder zu gewinnen. In Wirklichkeit ist dieser Mann natürlich ein unerbittlicher Moralist, dessen »l’art pour l’art« so gut wie dieselbe Parole bei Baudelaire oder Verlaine einfach die Verwerfung der schlechten Gesellschaft rings um ihn her bedeutet.
    Der Roman von 1992 macht die gemurmelten Beschwörungen der bösen Geister des falschen Lebens, die täglich auf unseren Lippen sind, explizit als blutige, heftige Abenteuergeschichte (statt, wie bei uns im Alltag, nur einer unaufhörlich öden, anämischen, dumpfen Routine implizit zu sein).
    Hier also flieht ein junges Mädchen namens Frühling mit einem ihr ergebenen, ebenso jungen Begleiter aus einer elenden, lieblosen, entfremdeten Bröselzivilisation (die ist britisch, könnte aber auch deutsch oder nordamerikanisch sein) in eine ärmliche, übervölkerte, farbenprächtige und gefährliche Gegend (die ist asiatisch, könnte aber auch afrikanisch oder südamerikanisch sein). Sie flieht aus dem Regen in die Traufe, weil sie kein virenverseuchtes, begehrtes und gefürchtetes Ding mehr sein will, an dem man sich die Lust abwischt, sondern eine Person ‒ lieber Mörderin als Sexspielzeug.
    Alles, was an künstlichen Höhlen, verfallenden Palästen, wohlriechenden Giften und grausamen Gewalttaten die von Calder geschaffene Welt in diesem Buch sonst noch bevölkert, ist nur zu dem Zweck arrangiert, diese Entscheidung, nicht als Gegenstand dahinzuvegetieren, sondern als Subjekt kämpfen zu wollen, lieber ungehorsam tot sein zu wollen als gehorsam scheinlebendig, als genau die moralisch höchststehende Option hervortreten zu lassen, die sie in einer Situation der vollständig zusammengebrochenen Erwartung gerechterer Gemeinschaften tatsächlich ist, einer Lage mithin, wie wir sie seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wirklich ertragen müssen.
    Das Mädchen namens Frühling ist damit die legitime Urenkelin von Satan, wie ihn John Milton sah: Nachfahrin eines Engels, der zu stolz war, im Himmel zu dienen, und also lieber in der Hölle herrschen wollte.
    Die Verhältnisse im späten zwanzigsten Jahrhundert, das Calder seine dunklen Träume hat träumen lassen, sind allerdings längst nicht mehr so idyllisch wie die bei Milton ‒ damals war das Bürgertum im Aufstieg begriffen und konnte sich noch einbilden, die Hölle, die es gerade einzurichten begann, ließe sich beherrschen.
    Aus jener Herrschaft des stolzen Engels ist bei Calder das Sichdurchschlagen eines geprügelten Engels geworden, der sich Stolz nicht mehr leisten kann, dafür aber noch schöner ist als der gefallene Morgenstern Miltons. Das ist so, weil Chancenlosigkeit im Aufbegehren gegen unbesiegbares Unrecht die Seele immer schön macht ‒ je chancenloser, desto anziehender wird die vergebliche Geste namens »Ich will nicht so verkommen sein wie ihr, die ihr mich gemacht und verdorben habt«.
    Calders im Februar 2001 in der nach einem von William S. Burroughs erfundenen Ort des technisierten Grauens benannten Science-Fiction-Zeitschrift »Interzone« erschienene Erzählung »The Nephilim«, die zu seinem »Lord Soho«-Zyklus von düsteren Märchen aus der fernen Zukunft gehört, stellt ein kleines, simples Kinderlied über die »sanfte Jane« vor:
    »Gentle Jane was as good as gold
    She always did as she was told;
    She never spoke when her mouth was full,
    Or caught bluebottles her legs to pull,
    Or spilt plum jam on her nice new frock,
    Or put white mice in the eight-day clock
    Or fostered a passion for alcohol
    Or vivisected her last new doll.«
    Der Stimme, die dieses Liedchen bei Calder singt, liegt offensichtlich nicht allzu viel am Bravsein ‒ zu attraktiv sind die nur scheinbar zurückgewiesenen Ideen für boshafte Streiche, die Jane nicht begeht: Käferbeine ausziehen, die Kleidung mit Pflaumenmarmelade schmücken, weiße Mäuse in die Uhr fallen lassen.
    Die letzte und dadurch, aber auch durch die Kursivierung im »Interzone«-Text deutlich hervorgehobene Zeile, enthält nicht weniger als das Grundmuster der Calderschen Erzählkunst insgesamt: Während man das brave Kind daran erkennt, dass es seine Puppen nicht aufschneidet, erklärt Calder in seinen Geschichten und Büchern die schönen lebenden Puppen, untoten Verliebten, lüsternen Spielsachen zu Heldinnen und
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