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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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Madame mir befohlen. Und was Madame sagt ...«
    Ich schaute mich in dem Restaurant um. Unter dieser scheußlichen Theatralik schwärte irgendetwas; etwas Reales, etwas noch Scheußlicheres; ein Schnitt, und der Eiter würde herausquellen.
    Ich war heute Nachmittag am Nana Plaza eingetroffen. Kito hatte sich nicht herabgelassen, mich zu empfangen; stattdessen hatte mich Mr. Jinx instruiert, ihr Assistent. Nein, Kito sei nicht wütend; ein letzter Auftrag, hatte er gesagt, und dann wären wir frei von allen Verpflichtungen. Darauf folgte mein Wiedersehen mit Miss Blutsauger ’71. Ohne Worte, nur Sexspiele (Pflaster klebten mir auf Brust und Leisten); schließlich waren wir losgezogen, und alles war wieder in Ordnung gewesen. Unser intimes Dinner wurde nur von den vorgetäuschten Todesqualen Englands gestört, während ich kurz davor stand, Primavera zu gestehen, wie abhängig ich von bestimmten Küssen war, und ihr zu versprechen, dass ich sie nie wieder verschmähen würde. Sie hatte längst ihre Siegesbeute eingefordert: meine Würde und meinen Stolz.
    »Ich weiß, dass du mich nicht liebst, Primavera, aber warum musst du mich so demütigen?«
    »Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht aufregen!« Sie schob ihren Eisbecher beiseite. »Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen. Aber schließlich bist du ja zurückgekommen ... Na gut, es war ein Spiel, eins von Primaveras kleinen Spielen. Madame hat gesagt, dass du mich liebst; ich hab ihr widersprochen. Sie hat behauptet, sie kann es beweisen ‒ du würdest zurückkommen, wenn du glaubst, dass ich in Schwierigkeiten stecke. ›Wollen wir wetten?‹, hab ich da zu ihr gesagt.« Überraschung, Schmerz, Boshaftigkeit, ein schlechtes Gewissen ‒ Primavera konnte gleichzeitig die Betrogene spielen und wie eine Frau dreinblicken, die dabei ertappt wird, wie sie ihren Liebhaber vergiftet. »Iggy«, sagte sie mit gespielter Wehmütigkeit, »warum bist du weggelaufen? Bin ich wirklich so schlimm?«
    »Dass Kito mich verfolgen lässt, kann ich ja verstehen«, erwiderte ich. »Ich kann auch verstehen, dass sie mir diese Killerinnen auf den Hals hetzt ‒ ich weiß einfach zu viel. Aber warum hat sie mich nach Bangkok zurückgeholt? Wenn du auch ohne mich arbeitest, braucht sie mich doch gar nicht!«
    Primavera ‒ von jedem Drehbuch gelangweilt, in dem sie nicht die Hauptrolle spielte ‒ ließ ihren Blick von der Show zu der Galerie aus Zeitungsausschnitten an den Wänden schweifen: Schlagzeilen und Fotografien aus der englischen Regenbogenpresse. Unter Dutzenden unscharfer Pin-ups aufgespießter junger Mädchen standen Textzeilen wie: »Tatyana, 16, aus Brixton: Alle ihre Freundinnen sind mit der Reinheitsfront aneinandergeraten. Nach dem Wahlsieg der RF wurde auch sie ausgeweidet! Jetzt weiß sie, was es heißt, Bauchschmerzen zu haben! Verstanden, Tatyana? Wir wünschen einen schönen Tag auf dem Spieß!« Unter einem Entlüftungsgitter flatterte ein (seit der Auflösung des Königreichs einfarbiger) Union Jack wie auf dem Turm eines Außenpostens am Ende der Welt.
    »Primavera ‒ ich rede mit dir!«
    »Das war nicht nur geflunkert«, sagte sie, zwischen Verbitterung und Launenhaftigkeit hin und her gerissen. »Ich freue mich wirklich, wenn du da bist. Aber ich liebe dich eben nicht; ich bin eine Lilim ‒ wir ticken da anders. Aber manchmal vermisse ich dich schon.« Sie erschauderte. »Du stellst mir immer so interessante Jungs vor.«
    »Irgendetwas riecht hier faul.«
    »Und ich«, sagte sie und beugte sich über den Tisch, »rieche das Blut eines Engländers.« Ihre rote Zunge glitt über eine lange Reihe spitzer Zähne.
    »Setz dich hin«, murmelte ich, »und mach den Mund zu. Möchtest du, dass das jemand sieht?«
    »Aber es gefällt dir doch, Iggy! Und du weißt, dass es nur ein klein wenig wehtut.«
    Wie hübsch sie war! Bevor sie jemanden tötete, war sie immer am großartigsten. Heute Abend trug sie ein schwarzes Cocktailkleid aus Dermaplast, das sich an sie schmiegte wie die abgeschürfte, aber noch immer lebendige Haut einer Schönheitskönigin aus Harlem. Mit ihren fünfzehn Jahren (sie war genauso alt wie ich, aber meine Anämie ließ mich älter erscheinen) und ihrer milchweißen Blässe war sie der Fleisch gewordene Traum femininer Sünde: verhasst, weil begehrt; begehrt, weil verhasst. Sie war der Traum unseres Zeitalters.
    An einem benachbarten Tisch hatten japanische Geschäftsleute einen Kellner gerufen. »Die da ‒ sie tot ‒ wir
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