Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
Vom Netzwerk:
Frau, und Frau kriegen Kind. Und Kind werden Puppe. Leute sagen, bald nur noch Puppen in ganze Welt. Nur noch Lilim.«
    »Primavera hat alles getan, was Sie von ihr verlangt haben«, murmelte ich. »Nur weil sie einmal ein Mensch war...«
    »Und ich nie Mensch? Das du wollen sagen, Mr. Ignatz?« Meine Hand zuckte von der Seite zurück ‒ die Zeitschrift lief mit interaktiver Software. Kito stand auf und ging zur fehlenden Wand der Vorbühne hinüber; ihr geishaweißesGesicht nahm die ganze Seite ein. »Natürlich«, sagte sie. »Meine Mae war Roboto. Ich halb Maschine bei Geburt. Nanoingenieur in Bangkok nehmen Fötus als Vorlage ‒ Puppen nicht werden gezüchtet Atom um Atom wie in Land der Farang. Manchmal, nur manchmal, siamesische Roboto ovulieren.« Eine Augenbraue zuckte wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels, das ein Unwetter auszulösen droht. »Aber Primavera ...« Ihre Lippen kräuselten sich, in der Ferne rollte Donner. »Oi! Ich mich erinnern, vor zwanzig Jahren Puppenplage beginnen. Nicht mit uns billige gefälschte Charliepuppe; nein, das Farang-Roboto, echte Cartier, kriegen Virus, werden verrückt, stecken Menschen an. Wenn jetzt kleine englische Mädchen kommen in Pubertät, sie auch werden Roboto. Du glauben, ich so sein wollen wie Primavera, Mr. Ignatz? Laufen durch Wände? Springen über Auto? Spucken Tod? Fliegen? Primavera sich reproduzieren. Ich steril, Maultier. Aber meine Software nicht scheiße verrückt ...«
    Das Unwetter zog ab. Kitos Gesicht verschwand, und Primavera kam zurück ins Bild. Sie hatte sich wieder ihrer Kleinmädchenhysterie hingegeben, stampfte auf den Boden und raufte sich die Haare.
    »Nicht den Tzepa . Iggy! Bitte!«
    Primavera dramatisierte immer alles ...
    Hinter dem Stillleben des Apartments, hinter dem Panoramafenster, lag der Nana Plaza unter einer verheerenden Sonne, die am Himmel stillstand, in Raum und Zeit gefangen, für immer ohne Nacht. Nacht. Ha! Sofort wären die narzisstischen Kapitalisten zur Stelle, die kriegerischen Kaufleute, die Europa ‒ das »Empire de luxe « ‒ geplündert und sich mit ihren Ideen davongestohlen hatten, mit ihren Namen, ihren Plänen, um sie auf dem Markt der Diebe zu verkaufen, zu dem der Nana Plaza geworden war. Die Straßenverkäufer boten die zerstörten Träume Europas feil, ein Elsternhort nachgeahmter Objets und Couture : psychotrope Parfums von Chanel, extraterrestrische Juwelen von Tiffanyund, den Schnitten eines Armani oder Lacroix, eines de Ville, de Sade oder Sabatier täuschend echt nachempfunden, Dermaplast, künstliche Haut ‒ die geächteten Farang-Textilien, aus lebenden Gewebekulturen gewoben. Dann würden Kitos Gynoiden ‒ Cartier und Rolex, Seiko, Gucci und Swatch ‒ aus ihren vakuumversiegelten Kisten steigen, Fleisch gewordene Versprechen, um die groteskesten Wünsche zu erfüllen. Und darum ging es Kito. Sie wollte Nana Plaza in eine Pornokratie der urheberrechtlich geschützten Zuhälter und Technoluden verwandeln; in eine Insel, auf der das raubkopierte Treibgut eines schiffbrüchigen Europas in neuem Glanz erstrahlte; in eine Verklärung aller nur denkbaren Fälschungen.
    Und Primaveras Flehen, dieses SOS einer Puppe, die an menschlichen Ufern Schiffbruch erlitten hatte, war das auch nur vorgetäuscht? Eine Bildautomateuse hatte begonnen, Drinks zu servieren.
    »Du immer so ein Gentleman«, sagte Kito. »Ich immer denken, alle Engländer ...«
    Ich schlug die Zeitschrift zu, zermalmte die staubdünnen Prozessoren darin. Dann suchte ich das Titelbild nach dem Datum ab. Auch nach drei Jahren in Bangkok waren meine Sprachkenntnisse bestenfalls rudimentär. Ich mühte mich, die lodernden Zungen der thailändischen Schriftzeichen zu entziffern; die Pikadons gähnten.
    »Das Magazin von gestern, Mr. Ignatz.«
    »Primavera noch immer im Weird ...«
    Ob Kitos Drohungen nun ernst gemeint waren oder nicht, sie boten mir jedenfalls einen Vorwand. (»Haltet die Klappe!«, fauchte ich die ‒ guten oder bösen ‒ Engel an, die mir »Trick! Schwindel!« ins Ohr flüsterten.) Vielleicht hatte ich während meiner Flucht genau darauf gewartet: auf einen Vorwand, zurückkehren zu können. Ich war ein Puppenjunkie; mein ganzer Körper sehnte sich nach den Küssen eines toten Mädchens. Nach Vampirküssen. Ich war ihr völlig verfallen.
    Nicht den Tzepa. Iggy! Bitte!
    Ein Hilferuf, der über ein von Begierden verwüstetes Kriegsgebiet hinweghallte. Sollte ich mich wieder ins Niemandsland begeben? Draußen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher