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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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den Menschen verhandeln zu können, eine Spezies mit der anderen. Die Menschen werden uns ihren Genpool nur dann opfern, wenn wir die Seuche unter Kontrolle haben.«
    »Die Amerikaner haben dich unter Kontrolle!«
    Titania lachte. »Ich kontrolliere sie, Menschenjunge. Ach, es ist wirklich schade, dass du die Zukunft nicht mehr erleben wirst: zwei Spezies, die eine wundervoll stürmische Beziehung eingehen!«
    »Das möchte ich gar nicht erleben.«
    »Wie du willst. Primavera und ich müssen jetzt gehen ...«
    »Warte ...« Titanias Ebenbild verblasste; nahm wieder Gestalt an. »Du glaubst, dass du leben möchtest. Du verweigerst dich dem endgültigen Vollzug, weil du dich nach dem ewigen Tod sehnst. Dem lebenden Tod. Du möchtest, dass die Lilim überleben, damit die Welt über eine unendliche Zahl von Opfern verfügt ...«
    Titania knisterte, wurde unscharf, wie ein gestörtes Fernsehbild. »Oh, du bist ein kluges Kerlchen! Aber vielleicht hast du recht. Weiß ich wirklich, was ich will? Ich bin nur eine Maschine, die gebaut wurde, um die Wunschträume von Männern zu erfüllen. Ich will, was du willst, Menschenjunge. Tote Mädchen. Ich will, was die Menschheit will. Prüfe dein Herz.« Sie schrumpfte zu einem Punkt zusammen. » Jeden Morgen ‒ sterben wir! «
    »Geh nicht ‒ du darfst sie nicht mitnehmen!«
    Titania verschwand.
    Der SiL war in die Mitte des Flusses zurückgetrieben; die Steuerung war unbrauchbar, und wir drehten uns langsam im Kreis, im Wirrwarr von Wirbeln und Gegenströmen gefangen.
    Es war vorbei. Endlich. Für uns gab es kein Happy End.
    Primavera schlief weiter; Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel. Ich fuhr mit dem Finger darüber und leckte ihn ab. Hinter meinen Augen explodierte ein blaugoldenes Feuerwerk, meine Lenden versteiften sich, der SiL füllte sich mit dem Duft des Zaubers. Auf zu meinen Gameten, kleine Maschinen!, dachte ich. Für euch gibt es keinen Tod. Ihr seid Primaveras Unsterblichkeit.
    Sie begann im Schlaf zu sprechen: »Ich habe alle meine Kleider im Lucky gelassen. Wunderschöne Kleider ...«
    »Ich kauf dir neue. In China.«
    »Dermaplast ...«
    »Natürlich.«
    »Marsianische Edelsteine ...«
    »Für das hübscheste, schönste Mädchen der Schule.«
    Ihr Schlaf wurde tiefer; sie taumelte durch unmenschliche Abgründe. Ich spürte, dass es auch für mich an der Zeit war zu schlafen. Zu ertrinken. Diese schwarze Straße war zu lang. Natürlich hatten wir uns hin und wieder ausruhen können: Ich weiß noch, wie ich aus dem Tunnel kam, wie über Calais die Sterne leuchteten und ich eine ganze Weile stehen blieb, während Primavera an meinem Ärmel zerrte, wie ich den Blick über unsere neue Welt schweifen ließ. Uns war eine Gnadenfrist gewährt worden, in einer neuen Welt, die anscheinend bereit war, uns aus dem Gefängnis unseres Ichs zu befreien, wie wir aus dem Gefängnis Englands befreit worden waren ...
    »Das ist es also«, sagte sie. »Das ist Frankreich.«
    »Wir sind entkommen. Ich kann es nicht fassen.«
    »Und jetzt gehen wir nach Süden?«
    »Es ist ein weiter Weg.«
    »Das ist mir egal. Wir schaffen das schon. Schließlich sind wir bis hierher gekommen.«
    »Schau doch ‒ da drüben. Es wird hell.«
    »Dover. Die Kreidefelsen. Wie in den Schulbüchern.«
    »Ich kann sie kaum erkennen ...«
    »Ah, dafür brauchst du Puppenaugen!«
    »Lebewohl, England.«
    »Lebewohl. Ich werde dir keine Träne nachweinen. Und ‒ Iggy, vielen Dank!
    »Wofür?«
    »Dafür, dass du zu mir gehalten hast. Ich bin eine Puppe, deshalb kann ich es nicht aussprechen, aber ich, ich ...«
    »Ja, Primavera?«
    »Wirklich. Ich, ich ...«
    »Ich liebe dich auch, Primavera.«
    »Ja, Iggy.«
    Meine Totenwache war fast vorbei. Aber ich durfte noch nicht schlafen. Ihre Lebenskraft floss durch mich hindurch. Nein, ich durfte erst schlafen, wenn ich einen menschlichen Schoß für sie gefunden hatte. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, unser Weg wäre hier zu Ende. Ich wünschte, die Geschichte würde nicht damit aufhören, dass ich ans Ufer watete, um neue kleine Primaveras zu zeugen. Ich wünschte, ich könnte sterben und im Bauch der Puppe Frieden finden.
    Ich legte ihr die Hand auf den Unterleib. Einen Wunsch hatte ich noch übrig. Ich würde ihn nicht verschwenden. Ich schloss die Augen und sah sie vor mir: Sie hatte mir, überheblich, unverfroren, verängstigt, den Rücken zugekehrt. Die Angebetete, für die ich mein Leben geben würde ‒ stets bereit, sich umzudrehen, die
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