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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen
Autoren: Diana Evans
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    Als Lucas noch klein war, besuchte ihn in seiner Kajüte auf dem Grand Union Canal immer wieder ein Traum. Ein Galoppieren erklang, das Wetter schlug um. Ein plötzlicher Windstoß schüttelte die Platanen ringsum; vor das Bett trat ein Mann, von Kopf bis Fuß in Schwarz, im Frack, mit Hut und großen, priesterlichen Händen. Er hob Lucas empor und trug ihn hinaus in die Nacht.
    Sie flogen. Sie eilten die Ladbroke Grove hinauf, hinweg über den Grenzhügel. Lucas fühlte sich geschwind und geborgen zwischen der Brust des Mannes und dem weichen, braunen Hals des Pferdes. Frackschöße peitschten im Wind. Sie kamen durch Gerstenfelder, die Tauben wurden zu Nachtigallen. Alles war anders, der Westway war fort, die Portobello Road kaum befahren; weiter und weiter ging es, ohne Richtung, ohne Worte, bis sie in der Eile heimisch wurden. Dort draußen war kein Kanal, kein Wasser, viele Meilen nicht, kein Verlust, kein Grabstein, und wenn Lucas aufwachte, von Wind umtost, an dem Ort, den er sein Zuhause nannte, in dem morschen Hausboot mit seinen Fragen und seiner Neigung zum Ufer hin, war seine Orientierungslosigkeit nur noch größer. Hoch zu Ross war es sicherer, und so wartete er sehr ernstlich auf die Rückkehr des befrackten Fremden.
    Wenn er an seinen Vater dachte, dachte er nicht an Antoney Matheus, sondern an einen Straßenräuber, der ihn zu sich holte in den Tiefen des Schlafs und die Welt veränderte, wie es nur Väter können. So war es einfacher.
    Er wachte an einem Aprilmorgen auf, kurz nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, nach jenem Traum, der Lucas seit dem Tod seiner Großmutter vor neun Jahren nicht mehr besucht hatte. Zurück blieb die übliche Orientierungslosigkeit; sie war sogar noch stärker, da der Traum unangekündigt, da er zu dem erwachsenen Schläfer gekommen war, und auch als Lucas die Augen öffnete, ließ ihn der Traum nicht los. Lucas lag auf der linken Seite des Doppelbetts, das er immer noch mit seiner Schwester Denise teilte. Seine Füße ragten unten über die Matratze hinaus, er hatte erst bei einem Meter zweiundneunzig aufgehört zu wachsen. Um ihn herum waren holzvertäfelte, immer kühle Wände. Sie erhoben und neigten sich über das Seitendeck und verbargen die Schränke, die sich dahinter, in jedem der wenigen freien Winkel befanden: Die Bettwäsche lag über Lucas’ Kopf, die Kleidung in einem Ausziehschrank gleich neben ihm, unter ihm, in einer Schublade, Denises handschriftliche Buchführung. Die Kajüte war zwei Meter fünfzig breit, die Decke erreichte an ihrem höchsten Punkt eins achtzig. Lucas beugte seinen Kopf schon aus Gewohnheit.
    Am bedrückendsten aber war ein antiker Kleiderschrank aus Kirschholz, der am Bettende dräute. Das einzige frei stehende Möbelstück enthielt Gegenstände, die seinen Eltern gehört hatten – seiner Mutter Carla, die gestorben war, als er nur wenige Monate alt war, und seinem Vater, der angeblich ertrunken war. Einer alten Regel gehorchend, die aufgestellt worden war, um Lucas’ Kindheitsängste zu bezwingen, wurde der Schrank niemals geöffnet. Das verhinderte auch, dass der Geruch der geisterhaften, verrottenden Dinge im Innern Denise und Lucas nachts in die Nase zog und ihnen Alpträume bescherte. Und tatsächlich hatte sich bei den wenigen Malen, als Lucas neugierig hineingespäht hatte, ein bitterer Holzgeruch aus der Düsternis im Innern aufgemacht, seinen Mut erstickt und ihn vertrieben. Es war an der Zeit, morgens auf etwas anderes zu schauen, auf eine helle, weite Straße, oder aber auf das Schlafzimmer einer Freundin. Das 20. Jahrhundert neigte sich dem Ende zu. Die Konservativen waren schon wieder Geschichte, wie auch Tupac und Biggie. Nun eroberte Sizzla Kalonji die Reggae-Welt, doch Lucas war immer noch am selben Ort und blickte auf ein verstörendes, lebloses Etwas, das ihm, nur wenige Zentimeter von den Füßen entfernt, den Weg in die Zukunft verstellte. Er hatte Denise erst kürzlich vorgeschlagen, den Schrank zu öffnen und zu entscheiden, was mit seinem Inhalt geschehen solle, aber sie hatte barsch erwidert, sie sähe keinen Grund, diese Dinge anzurühren.
    Denise war, als Floristin, schon vor Stunden aufgebrochen, nachdem sie ihr Kissen sorgsam glattgestrichen hatte. Es war ein heller, rosablütiger Morgen. Der Winter hatte sich lange an seine Macht geklammert, der Frühling in diesem Jahr mit kräftigen frostigen Winden begonnen, die die Blüten von ihren Zweigen auf die Straße trugen, wo sie sich zu
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