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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
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glaube nicht nur, dass ich sie liebe«, sagte ich. »Ich liebe sie wirklich.«
    Peter erhob sich mühsam von seinem Thron und stieg vom Podium hinunter. Für einen Moment trat er aus dem Bild, tauchte dann wieder auf und deutete ohnmächtig mit dem Finger auf mich. »Du liebst sie nicht ‒ du hasst sie. Sie besteht aus Hass. Dem Hass, den Männer für Frauen empfinden.« Er blinzelte (vielleicht waren die Scheinwerfer der Kamera zu hell) und schritt auf die fehlende Wand zu. »Das ist die Apokalypse: Nach Tausenden von Jahren des Geschlechterkampfs ist der Mythos des Krieges zu einem Gift geronnen ‒ einem Gift, so konzentriert, dass es Gestalt angenommen hat. Wir haben von geheimnisvollen Frauen geträumt ‒ Gefäßen unseres Hasses, unserer Begierden, unserer Schuld ‒, und jetzt bezahlen wir in der harten Währung der Wirklichkeit für unsere Träume. Sie ist das Familiengeheimnis, der nicht anerkannte Spross, der, jahrelang in einem geheimen Zimmer eingemauert, ausgebrochen ist, um Rache zu nehmen ...«
    »Ich liebe sie wirklich ...«
    »Du hasst sie. Und sie hasst dich. Wie kannst du etwas lieben, dass deiner dunklen Seite entsprungen ist? Sie ist kein Mensch! Sie ist ein Sammelsurium aus Angst und Schrecken. Hilf dir selbst. Du musst fliehen!«
    »Warum fliehst du nicht?«
    »Das würde ich ja«, sagte er, »wenn ich wüsste, wie ich hier rauskomme. So viele Räume, so viele Gänge und Treppen. Aber du bist noch nicht so tief in den Irrgarten der Begierden geraten ... Du kannst noch ...«
    »Ich werde für sie sorgen«, sagte ich. »Wir beide werden ‒ wir werden zusammen fliehen. Niemand wird uns zu fassen bekommen.« Warum wollte er das nicht begreifen? Der vergangene Sommer war mein Sommer gewesen. Ich ließ die Fotografie fallen und rannte den Tunnel entlang.
    »Sie hat meinen Vater umgebracht«, rief er. »Ihr hat sein Wagen gefallen.« Peters raues, hallendes Lachen folgte mir durch die Finsternis.
    Das Flussufer drohte unter den Vorderreifen des SiL wegzubröckeln; ich bremste und schaltete den Motor ab. Der Mekong lag schlafend vor uns, die Spiegelbilder der Straßenlaternen und Häuser wie ein Traum (ein ärmlicher, alberner menschlicher Traum), auf Gnade und Ungnade den unmenschlichen Tiefen ausgeliefert. Primavera und ich, die wir selbst unmenschlich waren, würden uns diesen Tiefen anvertrauen ‒ einer Strömung, so schwarz wie das, was uns am Leben erhielt: unsere Begierden. Brüderliche Strömungen. Schwesterliche Strömungen. Der SiL war ramponiert, aber der Fluss würde Gnade walten lassen. Er würde unsere Träume nicht ersticken. Das durfte er nicht.
    Fliegen zischten durch die geborstene Windschutzscheibe; Käfer pfiffen Johnny One Note . Über das Ufer hallte geistloser Lärm. An einer Biegung einen Kilometer flussaufwärts strahlte das White Russian , von Natriumglanz umgeben, kalten Hedonismus aus. Die Straße schien endlos ‒ die schwarze Straße des Mekong, die aus der Nacht kam und wieder in ihr verschwand, ein Gegenstück zu jener metaphysischen Straße, der wir folgen würden, bis die Nacht der Ewigkeit wich.
    »Worauf wartest du?«, fragte Primavera. Das Computer-Display des SiL zeigte ein Menü. Auf Kyrillisch. Primavera streckte die Hand aus und drückte auf eine Taste. Die Armaturen drehten sich, bis eine Vielzahl von nautischen Skalen und Zählern erschien.
    »Ja, ich weiß, ich weiß ‒ ich bin schließlich damit bis hierher gefahren.« Ich legte ihr die Hand auf den Bauch. »Wie ...«
    »Kaputt«, sagte sie. »Wenn ich nicht die Wahrheit über Titania erfahren hätte, hätte ich es vielleicht geschafft. Ein Vampir mit gebrochenem Herzen stirbt ...« Der Jeansstoff sträubte sich unter meiner Hand. »Möchtest du dir etwas wünschen?«, fragte sie.
    »Da gibt es so Vieles. Ein Happy End?«
    »Nicht für uns, Iggy. Überleg dir was anderes.«
    »Ich wünsche mir ...« Primavera umklammerte meine Hand.
    »Ach, Iggy!«
    »Festhalten ...«
    Der Motor grummelte; der SiL rollte langsam vorwärts, kippte, fiel und klatschte auf den schwarzen Spiegel des Flusses. Wasser lief uns in den Schoß; Röcke aus weißem Schaum bauschten sich um uns herum auf. Die Räder wurden eingezogen, der Außenborder ausgefahren. Ich steuerte in die Mitte des Flusses und drehte dann nach Osten, flussabwärts, um einen Landeplatz zu suchen, der von der laotischen Stadt am anderen Ufer weit genug entfernt war und wo die Diskretion der Grenzbeamten für ein paar Tausend Baht gekauft werden konnte.
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