Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen
Autoren: Richard Calder
Vom Netzwerk:
ganze Staub in mir ...«
    »Psst! Morgen oder übermorgen sind wir in China.«
    »Aber wir haben nicht mal Reisepässe. Wir haben rein gar nichts! Wie wollen wir denn ...«
    »Psst! Darum kümmere ich mich. Du wirst schon sehen.«
    »Wir sind am Ende, Iggy. Aber es ist mir egal. Ich möchte einfach, dass es aufhört. Der Durst. Meine Blutgier. Das alles treibt mich noch in den Wahnsinn ... Es wäre so schön, wenn ich mich einmal ausruhen könnte.«
    »Lass uns rausgehen«, sagte ich. »Diese traurigen Lieder gefallen mir nicht.«
    »Weißt du noch, was du mir versprochen hast, Iggy?« Das Skalpell, das ich von Spalanzani bekommen hatte, pikste mich in den Oberschenkel.
    »Ich habe dir nichts versprochen«, erwiderte ich und bezahlte mit den elektronischen Baht, die Mosquito uns gegeben hatte. Dann verließen wir das Café.
    Aus südwestlicher Richtung blies ein Monsun und trug das dumpfe Wummern einer Trommel zu uns herüber ‒ Mönche wurden zum Gebet gerufen. Die Regenzeit ging dem Ende entgegen, doch ein paar dunkle Wolken, die wie verbrannte Meringues vor dem Mond hingen, ließen ahnen, dass sie noch nicht ganz vorbei war. Primavera nahm meinen Arm.
    »Lass uns noch nicht zurückgehen«, sagte sie.
    Wir betraten eine Tempelanlage. Aus dem Bot erklang eintöniger Gesang. Sprungbereite Drachen ‒ von der Mondsichel nur schwach erleuchtet ‒ blickten von den Regenrinnen auf uns herab. Kleine Glöckchen bimmelten im Wind. Das Mondlicht verblasste; ein Mönch nahm frischgewaschene Gewänder von der Leine. Als die ersten Regentropfen fielen, suchten wir in einem Sala Schutz.
    »Lass uns hier bleiben«, sagte Primavera. »Für immer und ewig.«
    Die Tafel, Lehrmittel und Tische ließen erkennen, dass der Sala als Schule genutzt wurde. Die LED auf meinen Baht zeigte TB 0001 an. Ich ließ sie in eine Spendenbüchse fallen.
    »Geizkragen«, sagte Primavera. »Das rettet dich auch nicht.«
    »Eine Million Baht würden mich nicht retten. Zehn Millionen. Hundert Millionen. Aber das hier ist ein gutes Versteck.«
    »Mädchen werden nicht Mönche, Dummerchen. Aber ich könnte eine Kinnari werden.« Sie blieb neben einer Statue stehen, die halb Mensch, halb Vogel war, und zog eine Grimasse.
    »Die sind dazu da, böse Geister zu vertreiben !«, sagte ich.
    »Nun, mir machen sie keine Angst.« Sie ging zur Tafel und nahm ein Stück Kreide. Regen überschwemmte den weiß gestrichenen Innenhof und trommelte auf das Wellblechdach. Scheiß auf die Reinheitsfront , schrieb sie. Und auch auf Titania . »Ich hab das alles so satt«, sagte sie. »Warum können die uns nicht einfach in Ruhe lassen.« Sie setzte ein Miss Nana ’71 darunter.
    »Lass mich mal«, sagte ich, griff nach der Kreide und schrieb: Vlad Constantinescu ist ein Puppenficker , und darunter: Der Feind .
    Dann setzte ich mich an einen der Tische. Primavera nahm vor mir Platz. »Wer ist der Lehrer?«, fragte sie, und ohne mir die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fügte sie hinzu: »Ich weiß es ‒ Mr. Spink.«
    »Was für ein Fach?«
    »Oje, keine Ahnung«, sagte Primavera. »Ich hab nie aufgepasst.«
    »Theologie? Geschichte? Geografie?«
    »Ich kann mich nur an neo-malthusianische Volkswirtschaftlehre erinnern.«
    »Ja, das hatten wir jeden Tag.«
    »Menschen«, sagte Primavera, »vermehren sich im Verhältnis von 1, 2, 3, 4 ...«
    »Puppen dagegen«, sagte ich, »im Verhältnis von 1, 2, 4, 8 ...«
    »Leidenschaftliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern«, fuhr Primavera fort, »sind notwendig und werden es bleiben.« »Sie warf ein Stück Kreide gegen die Tafel. »Yeah, der olle Spink!« Die Kreide prallte von der Tafel ab und zischte wie ein Querschläger aus dem Geschützfeuer des Gewitters durch die Luft. »Die Lehrer waren keinen Strich besser als die Schüler. ›Li-lim, Li-lim, Li-lim . ‹ Wichser! Dauernd schickten sie einen zu Untersuchungen. ›Hast du auch deine Pillen genommen, Primavera?‹ ‒ ›Ja, Schwester.‹ Klar hatte ich. Die Appetithemmer wanderten schnurstracks in die Kanalisation. War das nicht eine tolle Zeit, Iggy?« Sie drehte sich zu mir um. Ihre Augen waren geschlossen; der hastig aufgetragene Lidschatten bildete einen starken Kontrast zu ihrer käsigen Gesichtsfarbe, und sie sah aus, als hätte sie ein blaues Auge, wie ein Panda. Ihr kanariengelber Pony verdeckte, zusammen mit etwas von Mosquitos Puder, das verschlossene Bohrloch über ihrer Nase fast vollständig. Sie war das hübscheste Mädchen auf der ganzen Schule.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher