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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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sagte ich: »Ich tue das für meine Mutter. Hier ist ein Mädchen, das behauptet, meine Schwester zu sein ...«
    Ich hörte, wie der Frau der Atem stockte. »Gut. Ich rede nicht gern darüber, aber womöglich weiß ich etwas über die Situation, in der ihr euch befindet. Und wie deine Mutter sich ...« Ihre Stimme versiegte.
    »Danke. Sind Sie Rhonda Mallorys Mutter?«
    »Ja und nein. Meine Tochter war Rhonda Mallory. Sie starb vor fünf Jahren. Sie war achtzehn. Sie hatte Leukämie.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich.
    »Ja, mir auch. Die New Yorker Polizei rief mich vor ein paar Monaten an und erkundigte sich nach Rhonda. Da besteht ein Zusammenhang, oder?«
    »Ich glaube schon.«
    »Ich erzähle dir, was ich der Polizei auch gesagt habe. Ich vermute, eine gewisse Debra Hallard war die Mitbewohnerin deiner Schwester. Sie verwendete Rhondas Namen.«
    »Kennen Sie sie?«
    Das Lachen der Frau klang bitter. »Oh, ich kenne das von ihr, was sie mich sehen lassen wollte. Als Rhonda zwölf Jahre alt war, ist nebenan ein Mädchen eingezogen. Ein Pflegekind. Die Porters sind tiefgläubig und kinderlos. Als sie Debra aufnahmen, kümmerten sie sich bereits um drei weitere Pflegekinder.« Die Frau schwieg einen Augenblick lang, aber ich sagte nichts. »Debra und Rhonda freundeten sich an. Sie wurden enge Freundinnen, fast wie Schwestern.«
    Mrs Mallory hielt erneut inne. »Entschuldige, aber ich brauche eine Zigarette. Eine wirklich schlechte Angewohnheit. Fang nicht damit an, wenn du es noch nicht getan hast.«
    Ich vernahm ein Knistern. »Ja - ich meine, nein, ich rauche nicht. Ich habe nicht vor, damit anzufangen.«
    Die Frau atmete hörbar aus.
    »Debra war ein bezauberndes, reizendes Mädchen. Als Rhonda so schwach wurde, kam Debra immer zu uns rüber und spielte mit ihr irgendetwas Ruhiges. Sie wies Rhonda nicht aus Scheu vor ihrer Krankheit zurück wie andere Mädchen. Oft blieb sie über Nacht, weil Rhonda sich fürchtete, zu schlafen. Diese Angst ist verbreitet unter Todkranken, weißt du.«
    Wieder schwieg ich. Was sollte ich auch darauf sagen.
    »In gewisser Weise lebte Debra bei uns und ging gar nicht mehr nach Hause. Es waren Sommerferien. Ich war so dankbar, dass sie für Rhonda da war, und ihre Anwesenheit schien ganz selbstverständlich. Mitfühlend, wie die Porters sind, hatten sie Verständnis dafür. Sie erlaubten Debra, bei uns zu wohnen.«
    Die Frau nahm wieder einen tiefen Zug an der Zigarette. »Und als Rhonda starb« - ihre Stimme wurde brüchig, versiegte und setzte wieder an - »als Rhonda starb, blieb Debra ... einfach hier. Ich wollte sie um mich haben. Nein, das ist eine Lüge. Ich brauchte sie um mich.«
    Es folgte eine weitere lange, zu lange Pause.
    »Entschuldige, ich habe mich ein wenig in der Vergangenheit verloren. Ich gehe jetzt nicht weiter in die Details. Debra blieb also und bald nannte sie mich Mom. Sie schnitt ihr Haar. Rhonda hatte eine Ponyfrisur, bis ihr die Haare aufgrund der Chemo ausfielen. Und so erschien Debra eines Morgens mit einem Pony zum Frühstück.«
    Ich wartete und ahnte, was die Frau als Nächstes erzählen würde.
    »Sie begann, Rhondas Kleidung zu tragen, und eignete sich bestimmte kleine Wendungen an, die Rhonda immer benutzt hatte. Sie erklärte Rhondas Lieblingsgerichte zu ihren eigenen. Sie sagte beispielsweise: »Warum machst du nicht einen Schokoladenkuchen? Du weißt ja, dass das mein Lieblingskuchen ist.« Ich bat die Porters, Debra wieder nach Hause zu holen, aber Debra weinte schrecklich. Sie ging zu den Porters zurück, doch schon am nächsten Morgen fand ich sie in Rhondas Bett. Sie fing an, sich Rhonda zu nennen.«
    Meine Vermutung stimmte: Das Mädchen »wurde« zu einer anderen Person. Sie schlüpfte in die Rolle einer anderen, deren Verlust beklagt wurde, und ging zu den Eltern, die der Schmerz verwundbar gemacht hatte. Mir kam ein Gedanke.
    »Mrs Mallory, bitte beschreiben Sie mir Debra.«
    Ich hörte, wie sie abermals an der Zigarette zog und seufzend den Rauch ausstieß. »Sie war bezaubernd. Sie hatte seidiges dunkles Haar und dichte, dunkle Wimpern, die ihre blauen Augen betonten. Und eine unglaublich wohltuende Stimme. Ich denke, das war ihr herausragendstes Merkmal.«
    »Ja«, erwiderte ich. Ich kannte diese wohltuende Stimme, aber auch die andere, die so klang wie das Zischen einer Giftschlange.
    »Mrs Mallory, ich bin mir sicher, dass wir mit Debra beide dasselbe Mädchen meinen. Sie ist zu uns nach Hause gekommen und behauptet, meine
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