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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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wette, du vermisst Rhonda, oder?«
    Das Mädchen schaute mich an und streckte dann die Hand nach dem Türrahmen aus, als benötigte sie Halt. »Sie haben sie geliebt. Sie würden sie nie ... vergessen.«
    »Nein, sie würden sie nie vergessen. Wer hat dich vergessen, Deb?«
    Die Verwandlung traf mich so unerwartet wie ein Schlangenbiss.
    »Stopp!« Das Mädchen war wieder in der Gegenwart. »Hör auf damit. Du bist genau wie die Ärzte. Das wird dir noch leidtun, Sunny. Du hättest dich besser nicht eingemischt. Ich bin hergekommen, um all die fiesen Dinge, die ich früher getan habe, wiedergutzumachen. Ich wollte es wieder in Ordnung bringen, aber du hast dich ja einmischen müssen.«
    Ich starrte sie mit offenem Mund an und zeigte unverhohlen meine Verwirrung. Dann versuchte ich rasch, sie zu verbergen und wieder meine gelangweilte, wissende Miene aufzusetzen.
    »Es gibt da ein paar Dinge, über die wir sprechen müssen. Ich möchte, dass du dich setzt und mit mir redest, Jazz.« Ich benutzte den Namen meiner Schwester, als würde ich ein Beruhigungsmittel verabreichen.
    Es funktionierte. Das Mädchen sank in den Ledersessel. Mit den Fingernägeln kratzte sie unruhig an den Armlehnen herum.
    »Ich weiß nicht genau, was hier vor sich geht«, fing ich an. »Aber ich will es wissen.«
    Das Mädchen ließ den Blick durch den Raum schweifen auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten, auf der Suche nach etwas Vertrautem.
    »Warum bist du hierhergekommen?«
    Sie starrte auf den Boden, dann blickte sie mich an. Alles Jazzhafte fiel von ihr ab. »Ich wollte nach Hause kommen.«
    »Aber das ist nicht dein Zuhause«, stellte ich fest, doch in mir stieg etwas hoch. Wir beide lebten im Schatten eines toten Mädchens. Keine von uns hatte ein echtes Zuhause.
    Das Mädchen seufzte. »Das hätte es sein können. Du hättest es einfach nur zulassen müssen.«
    Ich sprach so laut, damit, was auch immer in mir hochdrängte, nicht bis in meinen Kopf gelangen konnte. »Du kannst nicht einfach Jazz' Kleider anziehen und Jazz' Leben führen und glauben, dass meine Eltern dich lieben werden wie sie.«
    Sie entgegnete nichts. Sie tat etwas Schlimmeres: In ihrem Gesichtsausdruck lag Mitleid.
    »Sie können dich nicht lieben«, sagte ich. Ich schloss die Augen und atmete. Mit geschlossenen Augen sprach ich weiter. Wenn ich schon gezwungen war, es auszusprechen und zu hören, so musste ich ihre Reaktion zumindest nicht sehen. »Sie können niemanden lieben außer Jazz. Sie werden nie jemand anderen lieben.«
    Da war sie. Die Wand, an der ich mir den Kopf eingeschlagen hatte. Ich war nicht einmal wütend. Meine Eltern konnten nichts dafür. Sie waren Menschen mit Fehlern. Vielleicht konnten sie eine Art elterliche Liebe für ein Kind, für ihr eigenes Fleisch und Blut, empfinden. Aber Sunny liebten sie nicht, sie waren nicht in der Lage, Sunny zu lieben. Der Zorn, den ich mein ganzes Leben lang genährt hatte, fiel von mir ab, so wie zuvor das Jazzhafte von dem Mädchen, das mir gegenübersaß. Das Mädchen, das sein Leben zerstörte auf der Suche nach einer Liebe, die jemand anderem galt.
    »Warum hat Mrs Mallory gesagt, du seist gefährlich?«
    Einen Moment lang antwortete das Mädchen nicht, dann: »Wegen des kleinen Brands, den es im Haus meiner Pflegeeltern gab. Er hatte keinen großen Schaden angerichtet. Ich habe das Feuer genau unter dem Rauchmelder gelegt.«
    »Du meinst, um ein Zeichen zu setzen? So, wie wenn du beim Rausgehen die Tür hinter dir zuknallst?«
    »Genau.«
    Ich kannte das Gefühl. Man muss bloß einen Blick auf unseren Briefkasten werfen. Wir schwiegen. Ich war so müde. »Ich muss die Wahrheit wissen. Hast du das Feuer in der Wohnung gelegt? Hast du meine Schwester getötet?«
    Es fiel schwer, zu glauben, dass das Mädchen größer als Jazz war. Sie wirkte jetzt so klein. »Nein. Ich war wütend. Jazz hatte alles. Aber es war noch schlimmer als das. Sie wollte nicht, dass irgendjemand anderes überhaupt etwas hatte. Sie spannte mir meinen Freund aus, ließ ihn bei uns einziehen und sagte mir, ich solle ausziehen.«
    Das Mädchen fuhr mit der Hand durch die Luft, wie ich es bei Mom oft gesehen hatte. »Das Engagement in Vermont hatte ich schon. Ich habe Jazz die Brieftasche gestohlen. Das ist - das ist so eine Sache, die ich tue. Brieftaschen stehlen.«
    Ich sagte nichts darauf.
    »Ich hatte vor, ihre Kreditkarte zu überziehen. Aber dann habe ich von dem Brand gehört.«
    Ich nickte. »Und du wolltest mehr als nur eine
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