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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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Sunny ist der Spiegel. Du kannst einen Spiegel nicht durch dringen und du kannst ihn nicht mögen, weil er dir die Wahrheit vorhält. Ich musste weg von diesem Spiegel, so wie ich meinen Hals aus der Schlinge befreien musste.
    Das ist die Geschichte von Jazz' Kokon. Ich musste das aufschreiben, musste die Worte vor mir sehen, um sie zu verstehen. Die weitere Geschichte ist die der neuen Jasmine. Der Jasmine, die ich selbst erschaffen habe.

 
18. Kapitel
    D er Rest der Seite war leer. Ich blätterte um. Die Handschrift war hastig, wirkte nachlässiger als auf den vorangehenden Seiten. Es folgten Notizen, seltsame Fragmente, Gesprächsfetzen, kurze Beschreibungen der körperlichen Merkmale von Personen und seitenweise Szenen, ausgearbeitete Szenen für Schauspieler - mit Dialogen, Bühnenanweisungen und allen möglichen Anmerkungen, welche die Schauspieler berücksichtigen sollten. Die kurzen Stücke erzählten die Geschichte unserer Familie. Sie erzählten von Moms Klammern, Dads Trinkerei, meiner Unscheinbarkeit, Scheusals fiesem Charakter und Opa Wilsons viel zitierten Binsenwahrheiten. Alles war verwertet worden. Die Texte zeichneten ein genaues Bild von unserer Familie, unseren Eigenheiten, unseren Gesprächen. Ein Leitfaden für Betrüger.
    Das Tagebuch gab Aufschluss darüber, wie das Mädchen es angestellt hatte. Aber nicht, warum.
    Ich stand auf, ging ins Arbeitszimmer und rief Ms Collins an. Ich erzählte ihr, Mom und ich hätten eine Magen-Darm-Grippe, und ich versicherte ihr, dass ich alles im Griff hätte und mich am nächsten Tag wieder melden würde. Mission erfüllt. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schnappte mir das Tagebuch. Während ich die Treppe hinunterpolterte, klopfte ich mir damit gegen den Oberschenkel. Jazz und Mom saßen im Wohnzimmer und sahen fern.
    Ich ging durch den Raum zum Fernseher und schaltete ihn ab.
    »Sunny!« Mom sah mich gleichermaßen überrascht und verärgert an.
    Jazz' zornig funkelnde Augen waren auf das Tagebuch gerichtet, mit dem ich beharrlich gegen mein Bein schlug.
    Ich unterbrach Moms Protest. »Mom, Jazz und ich haben etwas zu besprechen. Allein. Eine Sache unter Schwestern. Macht es dir was aus, wenn sie mal kurz mit mir nach oben kommt?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, schaltete ich den Fernseher wieder ein, sah Jazz an und deutete mit dem Tagebuch in der Hand auf die Treppe.
    Jazz wandte den Blick nicht von dem marmorierten Einband des Buchs ab. Sie schloss langsam die Augen und öffnete sie wieder. Ihr starrer, kalter Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Augen eines Hais - die dunklen, gefühllosen Augen eines Raubtiers.
    Jazz nickte. »Ich bin gleich zurück, Mom. Ich muss Sunny wohl mal aufklären.«
    Mom wirkte verwirrt und verfiel wieder in ihre bruchstückhafte Sprache. »Oh. Ja. Nun. Mädchen - ich meine, wenn ihr meint ...« Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
    »Bringen wir es hinter uns, Sunny«, sagte Jazz und ging lässig vor mir die Treppe hoch.
    Oben folgte ich Jazz in ihr Zimmer. Sie ließ sich aufs Bett sinken und machte sich daran, Kissen aufeinanderzutürmen und unter ihren Kopf zu stopfen. Schließlich seufzte sie und faltete die Hände vor dem Bauch.
    »Sollen wir jetzt auch noch einen Einbruchsdiebstahl in diese schäbige Familiensaga einbauen?« Sie deutete träge auf die angelehnte Schranktür und die geöffnete Reisetasche.
    Ich schleuderte das Tagebuch auf das Bett, antwortete aber nicht.
    Jazz rührte sich nicht, sie warf nicht einmal einen flüchtigen Blick auf das Buch. »Interessante Lektüre?«
    »Spiel keine Spielchen mit mir.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Dann streckte ich die Hand aus und knallte die Schranktür zu. »Lass das Theater! Aus dem Tagebuch weiß ich, wie du es angestellt hast. Ich möchte wissen, warum.«
    Jazz verzog geziert das Gesicht zu dem gelangweilten Gähnen einer Südstaatenschönheit und verbarg ihren Mund ach so manierlich hinter der rechten Hand.
    »Warum was?« Sie faltete wieder die Hände. »Warum ich ein Tagebuch führe? Wenn du es gelesen hast, weißt du es. Warum ich Theaterszenen über unsere Familie schreibe? Nun ...« Sie machte eine lange bedeutungsvolle Pause. »Sunny, Liebling, ein Autor, den ich von jeher bewundere, hat einmal etwas dahingehend gesagt, dass eine verkorkste Familie das beste Erbe sei, das ein Schriftsteller sich wünschen könne. Ich bin der Meinung, das gilt auch für Schauspieler. Wir haben mit diesen Szenen in meinem
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