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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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für die Haustür würden wir neue Scharniere brauchen, weil alle angelaufen kommen, um Jasmine zu sehen.« Sie hielt kurz inne, und als sie fortfuhr, flüsterte sie beinahe: »Sunny, du weißt, wie sehr alle Jazz geliebt haben.«
    Da war es wieder. Mom sprach von Jazz in der Vergangenheit - und so, als wäre sie nicht im Raum.
    »Oh«, sagte ich. »Stimmt, ich habe nicht nachgedacht. Ich bin es nicht mehr gewohnt, dass Leute vorbeikommen oder anrufen.«
    »Jazz hatte so viele Freunde.«
    Ich kehrte zum Thema zurück: »Ich erzähle Ms Collins, ich sei krank und würde deshalb nicht zur Schule kommen. Wenn ich nicht Bescheid gebe, rufen sie Dad an. Und wenn sie ihn nicht erreichen, kommt Mr Preston womöglich vorbei, um nachzusehen.«
    »Der Schulleiter?«, fragte Jazz ungläubig.
    Meine Antwort kam prompt und scharf: »Jazz, die ganze Stadt kennt unsere traurige Geschichte. Wir sind die verrückten Hutmacher in diesem kleinen Wunderland hier. Wenn ich nicht zur Schule komme oder anrufe, wittern die Aasgeier fette Beute und fangen an zu kreisen.«
    »Sunny!« Mom war ganz bleich und zitterte. »Sprich nicht so über uns. Sprich nie mehr so über uns, hörst du?«
    »Ja.« Ich stürzte aus dem Zimmer und hastete die Treppe nach oben. Ich hatte Mom »uns« sagen hören. Und dieses »uns« schloss mich nicht mit ein.

17. Kapitel
    I ch stürmte in mein Zimmer, knallte die Tür zu und warf mich in den Schaukelstuhl. Ich schaffte es nicht, zu tun, was Dad wollte. Ich musste das Mädchen zur Rede stellen und wegschicken. Als die echte Jazz nach New York gegangen war, wusste ich zum ersten Mal im Leben, wo mein Platz in der Welt ist. Ich war die Spielmacherin, die Mannschaftskapitänin. Ich führte das Rudel an.
    Ich kam allmählich wieder ein bisschen runter. Und traf eine Entscheidung. Es gab etwas, was ich tun musste, und es war mir egal, ob Nicht-Jazz mich dabei erwischte. Dieses Spielchen, in dem ich so tat, als sei ich keine Katze, und Jazz, als sei sie keine Maus, war verrückt. Dem Rest der Familie mochte es vielleicht an geistiger Klarheit fehlen, mir aber nicht.
    Ich nahm einen tiefen Atemzug, was guttat, und rieb mir die Handflächen an den Beinen. Dann ging ich mit energischen Schritten durch das Badezimmer in Jazz' Zimmer. Wie eine Rakete mit Wärmesucher steuerte ich auf den Wandschrank zu, riss mit Schwung die Tür auf und kniete mich vor die Reisetasche. Ich machte den Reißverschluss auf und öffnete sie, noch während ich sie aus dem dunklen Schrank zu mir herauszog. Das Tagebuch lag in der Tasche, genau wie ich es vorhergesehen hatte.
    Das Buch an die Brust gepresst, stand ich auf. Die Reisetasche ließ ich offen stehen und die Schranktür angelehnt. Diese Fremde hatte vielleicht etwas zu verbergen, aber ich nicht.
    Bei der Rückkehr in mein Zimmer, schloss ich die Verbindungstüren hinter mir nicht, womit ich das Risiko einging, dass Jazz mich ertappte. Ich warf mich auf das Bett und stopfte mir das Kopfkissen in den Nacken, um meinen Kopf abzustützen. Dann griff ich nach dem Buch, glitt mit dem Daumen die Außenkante entlang und schlug die erste Seite auf.
    Dieses Tagebuch dient einer Übung. Die Schau spielerei hat ziemlich viel mit Therapie zu tun. Wir müssen uns selbst analysieren. Unsere »Vor geschichte« schreiben. Die uns zugrunde liegen den Beweggründe aufspüren. Unsere wichtigsten Beziehungen analysieren. Wenn uns das bei unserem eigenen Leben gelingt, dann gelingt es uns auch bei einer Rolle.
    Die nächste Seite war leer bis auf wenige Worte in der Mitte:
    Jazz entschlüpft ihrem Kokon und wird zum Schmetterling.
    Ich blätterte um und begann zu lesen.
    Kokon ist wirklich nicht das richtige Wort, um mein bisheriges Leben zu beschreiben. Es war eher ein Gefängnis. Ein Gefängnis mit wohlwol lenden Wächtern. Das klingt seltsam? Versucht mal, darin zu leben.
    Meine Eltern lieben mich, ja, sie beten mich sogar an, und genau das ist das Problem. Beide leben durch mich und ich weiß schon seit einer ganzen Weile, dass sie mich nie gehen lassen würden. Sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass sie mir die gesamte Last ihrer Unzufriedenheit aufgebürdet haben. Von mir wird erwartet, sie glücklich zu machen. Und das habe ich getan. Ich war char mant und hübsch und klug und liebevoll. Aber ihr Verlangen ist ein tiefes Loch und ich kann es nicht füllen, ohne mich selbst hineinzustürzen. Ich wusste, es hätte keinen Zweck, ihnen zu erklären, dass ich wegwill. Sie würden mir natür lich sagen,
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