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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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versprochen, dir das Album heute nicht anzusehen. Wir waren uns doch einig, dass du es dir nur eine Stunde pro Woche ansiehst, weißt du noch?«
    Ich musste leise reden. Laute Stimmen jagten Mom Angst ein und sie verfiel dann in Panik wie ein Pferd, das eine Klapperschlange hört.
    »Diese Woche hatte ich meine Stunde noch nicht.« Moms Stimme war schwach und weinerlich.
    »Doch, Mom. Du hast es dir gestern angesehen und vorgestern. Du hast versprochen, es heute nicht aufzuschlagen.«
    Ich kniete mich hin und nahm behutsam das Album von ihrem Schoß. »Komm, ich lege es weg. Du hast versprochen, dir heute die Haare zu waschen und dich anzuziehen. Du hast gesagt, du würdest mit mir in der Küche zu Mittag essen.«
    »Oh.« Nichts weiter. Eine einzige ausdruckslose Silbe.
    Mit diesem Tag ging es rasant bergab.
    »Mom, hast du heute Morgen deine Tablette genommen? Ich habe sie dir auf den Nachttisch gelegt.«
    »Ja. Hab ich. Ich nehme sie immer.«
    Ich stand auf und schleppte mich mit dem Scrapbook unter dem Arm die Treppe hoch. Ich ging in mein Zimmer, wo ich das Album unter das Bett schob, und marschierte dann den Flur entlang zu Moms Zimmer. Die Tablette und das Wasserglas befanden sich unberührt auf ihrem Nachttisch.
    »Na großartig. Sie ist zu depressiv, um ihre Antidepressiva zu nehmen.« Ich sprach oft laut mit mir selbst. Ansonsten gab es niemand Vernünftigen, mit dem ich hätte reden können.
    Ich schnappte mir die Tablette und das Glas, dann hastete ich wieder nach unten. Mom hatte sich nicht bewegt. Den Kopf immer noch auf die Hände gestützt, die Tränen flossen unvermindert.
    »Hier, du musst sie vergessen haben.« Ich reichte ihr die Tablette.
    »Leg sie. Einfach. Den Tisch. Ich. Dann gleich.«
    »Tu mir den Gefallen und nimm die Tablette jetzt, ja?« Ich ermahnte mich, meine Ungeduld nicht zu zeigen. Das verlangsamte die Dinge nur. Ich drückte Mom die Tablette in die schlaffe Hand, führte ihre Hand zum Mund und tippte mit dem Wasserglas gegen die andere Hand, auf die sie nach wie vor ihren Kopf stützte. »Hier. Trink das aus.«
    »Ich vermiss sie so.« Mom hob den Kopf und griff nach dem Glas. Mit der Tablette auf der Zunge nippte sie daran und schluckte sie hinunter. »Ich wünschte, ich würde nur einmal morgens aufwachen und es wäre nie geschehen. Ich vermisse sie so sehr.«
    »Ich weiß, du vermisst sie. Alle tun das.«
    Ja, klar. Alle vermissen Jazz.
    Alle außer mir.

2. Kapitel
    W ährend ich Schwierigkeiten habe, mich als Teil meiner Familie zu fühlen, verspüre ich eine Verbundenheit mit unserem Haus.
    Es ist ein altes Farmhaus, ein Gebäude ohne Schnickschnack. Mit Ziegelböden, Stirnholz-Arbeitsplatten in der Küche und einem altmodischen Metallregal mit Dads Kochbüchern aus seiner Gourmetphase. Die Schränke haben Glastüren und mir macht es, ehrlich gesagt, sogar Spaß, sie blitzblank zu halten. Abspülen und Putzen beruhigen mich. Oder vielleicht genieße ich es einfach, dass bei dieser Arbeit ein Ergebnis zu sehen ist.
    Ich stand an der Spüle, wo ich Tomaten aushöhlte und mit Thunfischsalat füllte. Ich legte Cracker auf den Teller, ließ Eiswürfel in die Gläser fallen und goss Tee ein. Mom starrte niedergeschlagen auf ihren Teller.
    »Jazz hat immer einen Stängel Minze in den Tee getan.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wehmut und Kritik.
    Meine Kiefermuskeln verkrampften sich. Ich öffnete den Mund und bewegte den Unterkiefer hin und her. Eine Entspannungsübung, die mir mein Zahnarzt beigebracht hatte, weil meine Kiefermuskeln mit Krämpfen auf Stress reagieren. Ich bekomme davon Kopfschmerzen, die sich wie ein Schraubstock anfühlen.
    »Ja, Mom. Ich erinnere mich.«
    »Jazz hatte so ein gewisses Händchen. Alles, was sie tat, war ... ich weiß nicht ... etwas Besonderes.«
    »Jaha, etwas Besonderes. Versuch, was zu essen, Mom.«
    »Es gab nichts, was Jazz nicht konnte.«
    Nee, nicht mal sterben, dachte ich.
    Ich sah Mom kurz dabei zu, wie sie ein Massaker auf ihrem Teller anrichtete, dann stapfte ich wieder nach oben. Dort holte ich den gelben Umschlag aus meiner Tasche und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Schrift. Irrtum ausgeschlossen. Das war Jazz' Handschrift. Lockere, fließende, großzügige Schwünge auf Papier, wie eine Pferdemähne im Wind.
    Irgendetwas hielt mich davon ab, den Brief zu öffnen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich beschloss, mich an das Vogel-Strauß-Prinzip zu halten, das unser Familienleben beherrschte.
    »Also«,
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