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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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erklärte ich den Wänden meines Zimmers, »wenn der Brief so lange gewartet hat, kann er auch noch ein bisschen länger warten.« Ich klemmte den Umschlag in mein Synonymwörterbuch und polterte die Treppe hinunter.
    »Ich komme zu spät. Iss auf, Mom, und versprich mir, dass du dich danach anziehst!«, rief ich, während ich die Fliegengittertür aufstieß und das Haus verließ.
    Ich wartete nicht auf eine Antwort.
    Der restliche Tag glitt an mir vorüber. Ich zwang mich in einen Zustand selektiver Amnesie, was den Brief, Mom und Jazz anging.
    Den Nachmittagsunterricht verbrachte ich abgekapselt und allein. In kleinen Städten wie Angleton war eine Tragödie der direkte und sichere Weg, um berühmt zu werden. Berühmt-berüchtigt trifft es vielleicht besser. Die Leute behandelten mich, als ob ich sie mit dem Unglücksvirus anstecken könnte, dann wieder trieften sie vor Selbstzufriedenheit, weil die Kugel sie gerade noch einmal verfehlt und stattdessen mich getroffen hatte.
    In der Schule war ich, wie überall, Jazz Reynolds' kleine Schwester. Nie Sunny Reynolds. Ich hatte ein paar Schulfreundinnen, bevor Jazz starb, aber keine engen Freundinnen. Ich schloss nicht leicht Freundschaften. Na ja, ich schloss überhaupt keine Freundschaften. Da ich mit einer Meisterin der Manipulation und Hinterlist lebte, fiel es mir schwer, irgendjemandem mein Vertrauen zu schenken.
    Bücher waren meine besten Freunde. Sie sind da, wenn du sie brauchst, und wenn du sie zuklappst, bleiben sie geschlossen.
    Was die Lehrer angeht, so war ich für sie vor Jazz' Tod - V.J.T. - eine einzige Enttäuschung: Jazz war Seide und ich war billiger Polyester, von der Sorte, die auf der Haut juckt und einen schwitzen lässt.
    Nach Jazz' Tod - N.J.T. - wurde ich mit Samthandschuhen angefasst. Die Lehrer schlichen vorsichtig um mich herum, erwähnten die Tragödie mit keinem Wort und fragten sich, was sie wohl tun sollten, falls ich bei ihnen im Unterricht plötzlich austicken würde.
    Einmal hörte ich zufällig eine Unterhaltung zwischen zwei meiner Lehrer mit, als sie mit ihren fleckigen Kaffeetassen den Gang entlangschlenderten. Auf einer der Tassen stand: DIE DREI BESTEN DINGE AM UNTERRICHTEN: JUNI, JULI, AUGUST.
    »Das Reynolds-Mädchen war wirklich begabt. Was für ein tragischer Tod.«
    »Ich habe gehört, ihre Überreste konnten nicht identifiziert werden. Da war nur Asche.«
    »Und die arme Mutter ist zusammengebrochen.«
    »Und dann der Vater. Das einzige Mal, dass er nüchtern wurde, war, als er im Knast das Bewusstsein verlor.«
    »Er war so ein guter Journalist. Die Zeitung ist nicht mehr dieselbe ohne seine Kolumnen.«
    »Die kleine Schwester ist nicht annähernd so intelligent wie Jazz, was?«
    »Nein, und dann auch noch so unscheinbar.«
    Sie gingen auseinander, ohne bemerkt zu haben, dass ich hinter ihnen war, und eilten in die nächste Unterrichtsstunde, um Unterlagen und weise Worte auszuteilen.
    Ich konnte mich nie entscheiden, was ich mehr hasste: die Schule oder mein Zuhause.
    Mom schlief, als ich heimkam. Ich deckte sie mit einer gehäkelten Decke zu, schaltete den Fernseher ein und sah mir die Nachrichten an. Ich liebe den Reporter mit dem falschen weißen Haar. Wenn etwas falsch ist, will ich, dass man das auch sieht. Er bringt so Geschichten über superschicke Restaurants, bei denen Ratten und Kakerlaken und jede Menge anderer Ekelkram in der Küche gefunden wurden.
    Später machte ich eine vegetarische Gemüsesuppe in der Mikrowelle warm und aß sie, während ich ein Gedicht von Edgar Allan Poe las, mit dem wir uns als Hausaufgabe für Englisch beschäftigen sollten. Es hieß Annabel Lee und handelte von einem Mann, der sein Leben ruinierte, weil er nicht über den Tod eines Mädchens hinwegkam.
    Wetten, dass Annabel Lee keine Briefe geschrieben hat?
    Ich klappte das Buch zu. Anschließend wusch ich Teller und Löffel ab und setzte mich wieder vor den Fernseher. Ich zappte durch die Programme auf der Suche nach einem Horrorfilm oder irgendeiner Enthüllungsstory, aber ich musste mich mit Sitcoms begnügen, in denen reizende kleine Kinder reizende kleine Geschichten in reizenden Familien erlebten. Meine Augen wurden schwer und ich beschloss, dass es Zeit war, schlafen zu gehen.
    Statt Mom zu wecken, holte ich ein Kopfkissen von oben, schob es ihr unter den Kopf und stopfte die leichte Decke um sie herum fest.
    »Das Baby schläft, die Küche ist sauber und die Hausaufgaben sind erledigt.« Mit einem tiefen Seufzer ging ich
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